Von Doris Meierhenrich
01.12.2003 / Berliner Zeitung
Es beginnt mit einer rasanten Entstaubung. Weiß wirbelt es in die Luft, als ein Percussionist wild auf einen Büchertisch eintrommelt, begleitet von Cello und Spinett. Die Energie dieser Anfangsmusik verheißt viel. Vielleicht zu viel, denn das Entlüftungsprogramm, mit dem der niederländische Regisseur Johan Simons und der Musiker Paul Koek ihren "Fall der Götter" einleiten, bleibt zweieinhalb Stunden lang ein Buchdeckeltrommeln. Kein Buchstabe fällt aus dem Inneren heraus in eine neue Ordnung. Die Theatergruppe ZT Hollandia hat ihrer Vorlage (Lucchino Viscontis Film "Die Verdammten") nur demonstrativ den parfümierten Hauch ausgeklopft. - 1999 landete ZT Hollandia einen internationalen Erfolg damit; in Berlin gab sie am nun ihren Bühnenabschied. Film wie Stück handeln von der nationalsozialistischen Machtergreifung im Kostüm der Verfallsgeschichte einer Großindustriellenfamilie. Die Krupp-Dynastie wollte Visconti darin gespiegelt sehen, dazu Macbeth, die Buddenbrooks und Dostojewskis Dämonen. Zwischen privater Machtgier, Inzest und dessen Instrumentalisierung durch die Nazis mäandert ein blutiger Intrigenverlauf. Hurtig rutscht die Stahlwerksleitung durch drei Generationen, der Reichstag brennt, Deutschland mutiert zur Terrormaschine. Jede Figur wechselt mehrfach das Gesicht, wandelt sich vom Unterdrückten zum Mörder und Opfer. Johan Simons wollte diese Jekyll-und-Hyde-Dialektik als düsteres Welt-Prinzip noch deutlicher ausschneiden - in Rollenschnipseln. Auf offener Bühne stehen die Figuren zusammenhanglos herum. Der Dynastieverfall als parodistische Schauspielerverweigerung ist teils witzig, doch ZT Hollandia läuft mit dem Zeigetheater weit offene Türen ein.
Solchen Demaskierungsaufwand braucht das Regieteam Rimini Protokoll nicht, um die Sinne zu schärfen für die lichtscheue Grauzone zwischen Spiel und Echtheit. Subtil spüren sie jenem Punkt nach, an dem sich das Konstruierte im Leben von selbst zu erkennen gibt. Ihre halbdokumentarischen Theaterprojekte erklären sich nicht; sie erfordern genaues Beobachten, Suchen, Nachspielen. In "Deadline" geht es um das Sterben: Laien stehen auf der Bühne, zwischen Kränzen und kleinen Lichtkästen, in denen Miniaturkrankenzimmer aufleuchten, Röntgenbilder oder Fotos. Es sind Menschen, die mit dem Sterben leben: eine Vorpräparatorin, die Leichen für das Anatomie-Seminar aufschneidet, ein Trauerredner, ein Steinmetz, ein Ex-Bürgermeister, der sich für Feuerbestattungen interessiert. Umstandslos und lakonisch berichten sie von ihrer Arbeit; ganz von selbst schleichen sich die komischen, morbiden, grotesken und auch sehr rührenden Momente ein. "Am Ende bleiben nur Buchstaben von einem", sagt der Steinmetz. "Einer kostet 7 Euro."
Deadline: HAU; 2.- 4. Dezember, jeweils 20 Uhr (Tel. 25900427). Fall der Götter: keine weiteren Vorstellungen.