Kommt gut an

In drei Wochen treten die Bulgaren der EU bei. Längst aber kreuzen sie über unsere Straßen: als Lastwagenfahrer. Einer von ihnen ist jetzt gar Theaterstar

Von David Schumacher

08.12.2006 / Financial Times Deutschland

E s wäre besser, wenn die Ausländerbehörde jetzt mal nicht weiterliest. Sie sollte besser nicht mitbekommen, was Wentzislaw Borissow antwortet, wenn man ihn fragt: Was ist Ihr Beruf? Dann lächelt Borissow gütig, seine braunen Augen werden noch ein wenig tiefer. Er hat diese Fangfrage oft gehört in den letzten Monaten, von seinem Publikum und von Journalisten. „Mein Beruf ist Lastwagenfahrer.“ Kurz kneift er die Augen zu, als lache er eben in sich hinein. In seinem Visum und im Arbeitsvertrag steht etwas anderes: Künstler.

Tatsächlich ist Wentzislaw Borissow seit einigen Monaten beim Theaterregisseur Stefan Kaegi angestellt, als Darsteller im Stück „Cargo Sofia“. Er spielt sich selbst: „Ich bin Lastwagenfahrer.“ Eigentlich spielt er gar nicht richtig – er stellt sich selbst dar, erzählt seine Geschichten von Bulgarien, von den Grenzen Europas und von Zigarettenschachteln als Wegezoll. Nebenher chauffiert er sein Publikum, auf einem echten Lastwagen, dessen Ladefläche zur Tribüne umgebaut wurde.

Es gibt Tausende Bulgaren wie Borissow, die schon seit Jahren große Lastwagen von Kopenhagen nach Palermo, von Berlin nach Madrid, quer durch die EU steuern. Eine der größten Speditionen Europas, Willi Betz aus Reutlingen, baute mit bulgarischen Billigfahrern gar ein Imperium auf – wenn auch nicht ganz legal. Das Stuttgarter Landgericht verhandelt gerade einen Mammutprozess gegen Betz: Es geht um illegale Beschäftigung, Bestechung, Urkundenfälschung, Sozialversicherungsbetrug, Steuerhinterziehung. So wird erstmals aktenkundig, dass dermaßen viele Bulgaren auf unseren Straßen unterwegs sind, wenn auch viele legal. Wenn es also Menschen gibt, die Europa wirklich gut kennen – dann sind es bulgarische Lastwagenfahrer. In drei Wochen kommt die EU endlich bei ihnen zu Hause an. Von Borissow, 53 Jahre alt, verheiratet, zwei Kinder, fällt eine große Bitterkeit ab, er spuckt sie aus in einem Satz: „Ich habe so viel Zeit an Grenzen verschwendet in meinem Leben!“ Wenn er es durch Serbien und Kroatien in die EU geschafft hat, liegen die Schlagbäume hinter ihm – und vor ihm nur noch Straßen.

Das Streckennetz Europas ist in seinem Kopf. An Kurven, Hügel, Ausfahrten erinnert er sich besser als an die Ladungen. Mal waren es österreichische Eier, mal deutsche Stahlrohre, mal italienischer Beton, änderte sich ja ständig. Autobahnen aber merkt er sich wie Gesichter. „Ich muss nicht auf die Karte gucken, ich hab’s im Gefühl, wann auf der A9 die Ausfahrt Nürnberg kommt.“ Er schließt die Augen und sieht seine Lieblingsstrecke, die E80 zwischen Genua und Nizza, immer an der Riviera entlang. Seine rechte Hand schwebt in Augenhöhe, vollführt sanfte Links- und Rechtskurven. „Die Straße hat viele Tunnel und Brücken. Und sie hat Meer“, sagt Wento. Wenn Wentzislaw Borissow, den die Kollegen Wento nennen, seinen bulgarischen Akzent gegen einen französischen tauschen würde, man könnte ihn für den Schauspieler Jean Reno halten. Beide haben weiche Lippen, die sehr spöttisch lächeln können. Sie teilen den kratzigen Stoppelbart, der silbern schimmert, und die schmale, lange Nase. Wento und sein Fahrerkollege Nedjalko sind „Experten“, so nennt Theatermacher Kaegi die Menschen, die in seinen Inszenierungen als Pförtner, Eisenbahner und Spediteure auftreten. Kaegi zeigt Originalschauplätze, lässt Frachtarbeiter zu Wort kommen, unterlegt Szenen mit Musik, blendet Texte ein. In der Sprache von Film und Fernsehen würde man das Dokumentation nennen. Fürs Theater gibt es dieses Genre eigentlich nicht. Das Projekt ist auf Tour, es gastierte in Basel, Zagreb, Berlin, Belgrad, Essen, Avignon, Riga, zuletzt in Frankfurt.

Im April lud Kaegi in Sofia zu einem Casting für einen Traumjob ein. Er suchte Lastwagenfahrer, die Deutsch und Englisch und noch ein paar Sprachen sprechen, die sich nicht zieren, ihre Schicksale zu erzählen und ein paar Volkslieder zu singen. Der Lohn sollte mehr als das Doppelte dessen betragen, was bulgarische Lastwagenfahrer verdienen, und das übersteigt selten 500€. Na ja, dachten viele, die sich meldeten, wird wohl ein Job als Fahrer für eine lustige Theatertruppe aus dem Westen sein. Wento dachte das noch, als er längst ausgewählt war und mit Kaegi zu proben begann, für die Premiere in Basel. „Nach einer Woche hatte ich langsam kapiert, was ich machen muss.“ Sein Job ist, die Show zu schmeißen. Wento trägt ein Funkmikrofon und steigt in den Laderaum des Lastwagens. Drinnen wartet sein Frankfurter Publikum, 50 Zuschauer in vier Reihen. Wento stellt sich vor und sagt: „Sie sind meine Ladung. Bitte anschnallen. Guten Transport!“ Sein erster Lacher heute.

Selten hat ein Theaterdarsteller solche Macht über sein Publikum. Wento transportiert es zwei Stunden durch Frankfurt, vorbei an Containerterminals und Lagerhallen, durch Waschstraßen und Kreisverkehre. Er plaudert mit seinem Beifahrer Nedjalko und steckt wie beiläufig die Rahmenhandlung ab: Man fährt von Sofia nach Frankfurt, im Zeitraffer. Das Spielchen klappt ganz gut, weil viele Ecken in Frankfurt tatsächlich nach Sofia, Zagreb, Belgrad aussehen. Vorn in der Fahrerkabine sitzen die beiden, steuern den Truck (in ihrem Akzent klingt es wie „Drück“) und reden in Funkmikros. „Ich weiß noch, früher stand an dieser Stelle der Belgrader Fernsehturm.“ Sie erklären, wie man im Iran an eine Tankfüllung kommt: „Ich zahle mit einer Ausgabe vom ,Playboy‘.“ Zählen auf, wer an der serbischen Grenze die Hand aufhält: „Der Grenzbeamte, dann der Verkehrspolizist. Und dann noch der Zöllner.“ Das ist lustig und alles sehr glaubwürdig, hier sprechen zwei echte Fernfahrer. Sie könnten auch erzählen, wie sie chinesische Illegale in Radkappen verstecken oder Kapseln mit Polonium im Handschuhfach – man würde es ihnen abnehmen. Vielleicht denkt Wento über solche Witzchen nach, wenn seine Augen wieder so schelmisch zwinkern. Aber er sagt nur: „Stefan ist mein Chef, ich mache, was er sagt.“ Der Chef sagt ihm oft: „Erzähl, was dir grad einfällt.“ Das ist gar nicht wenig verlangt von einem Mann, der oft wochenlang allein in seiner Fahrerkabine sitzt, auf den langen Fahrten, in den endlosen Staus. „Ich bin keine sehr gute Informationsquelle über Bulgarien“, sagt Wento, er stapelt tief, das gehört gewissermaßen zur Rolle.

Die unbekannten, verborgenen Orte, an die er die Zuschauer bringt, die seien doch das eigentlich Interessante. Wie der Containerterminal oder die Müllsortierungsanlage. „In Sofia haben wir nämlich ein großes Müllproblem. Wir umhüllen ihn mit Plastik und verbrennen die Pakete irgendwo.“ Sein Kollege Swetoslaw schmiss den Theaterjob nach vier Monaten. „Er wollte nicht mehr in der Stadt fahren“, sagt Wento. Enge Straßen, viel Verkehr, Ampeln, das mögen Fernfahrer nicht, das ist ihnen unbekanntes Terrain. Sie steuern ihre vielachsigen Kolosse von der Autobahn in Gewerbegebiete und auf weite Industriegelände, nicht in zugeparkte Straßen wie die Waldschmidtstraße, wo der Frankfurter Theaterabend startet. Wento hat kein Problem mit der Stadt – zuletzt fuhr er fünf Jahre Bus, von Sofia hinaus nach Europa, bis nach Südspanien. Er mag das Meer, besonders die Schwarzmeerküste daheim. Im Stück erzählt er, im Sommer habe er endlich mal Urlaub dort gemacht, den ersten nach fünf Jahren. Er sagt nicht, dass das die Sommerpause des Theaters war. Allmählich kann er den Anspruch nicht mehr halten, dass er im Stück ausschließlich aus seinem Leben berichtet. Die Realität ist immer zu quirlig fürs Theater. Und so ruiniert der EU-Beitritt Bulgariens sogar einen zentralen Teil des Stücks. Die Strecke von Sofia nach Frankfurt führt bislang über Serbien und Kroatien in die EU, künftig wird sie über Rumänien führen. Und gerade Serbien ist Schauplatz vieler Anekdoten. Dort kostet zum Beispiel ein Bus am Zoll eine Stange Zigaretten. Einmal saß Wento am Steuer eines schwach besetzten Doppeldeckerbusses, und tatsächlich forderte der Beamte zwei Stangen: Es seien ja quasi zwei Busse übereinander. Wentos Chef gibt ihm 25€ mit, zum Schmieren. Wenn er damit nicht hinkommt, muss er aus eigener Tasche etwas drauflegen. Und das passiert oft. Schon wenn seine Firma vorn Bridgestone-Reifen und hinten Michelin aufgezogen hat, fällt das bestimmt einem serbischen Polizisten auf, der daran herummäkelt, bis die Kasse stimmt. Die Straßen in Rumänien sind sehr mies, erzählt Wento, und er verzieht das Gesicht, als stecke ihm jedes rumänische Schlagloch im Kreuz. Bisher hat es für ihn keinen vernünftigen Grund gegeben, das Nachbarland zu besuchen. Aber bald ist Rumänien ein Nachbar mit offenem Gartentor, endlich kann er durchfahren nach Europa, ohne Wartezeit zu vergeuden und Uniformierte zu schmieren. Wento freut sich wieder richtig aufs Fernfahren, wenn das mit dem Theater mal vorbei ist. Er sagt, mit EU-Geld würden neue Straßen gebaut und die Gehälter in Bulgarien würden steigen. In Frankfurt führt die Route über den Hof des Logistikers Schenker.

Wento steuert sein Publikum an den geparkten Lastwagen vorbei, darin dösen die Fahrer. Plötzlich bremst Wento, er steigt aus und geht zu einer roten Zugmaschine mit polnischem Kennzeichen. „Sehr schön, Doppelkabine.“ Er öffnet die Fahrertür, drinnen fällt ein Fahrer aus dem Schlummer. „Guten Tag, hier ist ein Theaterstück, dort im Truck sitzt das Publikum.“ Er wendet sich an die Zuschauer. „Sehen Sie, hier schläft der erste Fahrer, und dort oben ist die Kammer für den zweiten Mann.“ Zum Fahrer: „Woher kommen Sie? Posen, aha. Wie weit ist das? 750 Kilometer, aha. Gute Rückreise.“ Der Pole schaut so durcheinander und Wento so lässig, dass es Szenenapplaus gibt. „Die ersten drei Wochen hatte ich Lampenfieber“, sagt Wento. „Jetzt nicht mehr. Aber vor jeder Vorstellung geht mein Adrenalin hoch.“ Es spricht einiges dafür, dass aus Wentzislaw Borissow ein Künstler geworden ist.

 

Cargo Sofia gastiert in Wien, 19.–22. Dezember, www.tqw.at, und in Straßburg, 6.–17. Februar 2007, www.le-maillon.com


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