Karl Marx und die Selbst-Darsteller

"Das Kapital", das Hauptwerk von Karl Marx, ist eine Analyse und Kritik der kapitalistischen Gesellschaft. Ein theoretischer Text, völlig ungeeignet als Grundlage für ein Theaterstück, müsste man meinen. Ein Irrtum. In Düsseldorf bringen junge Theatermach

Von Chr. Nesshöver

06.11.2006 / Handelsblatt (online)

DÜSSELDORF. Thomas Kuczynski hat es ausgerechnet: Würde er dem Publikum das 751-seitige Drehbuch komplett vorlesen und pro Seite eine Stunde „intensiven Nachdenkens“ hinzugeben, „was notwendig ist, um das Buch wirklich zu verstehen“, dann dauerte das ein ganzes Arbeitsjahr. Oder 90 Mal Richard Wagners „Ring“. Dann schon lieber Karl Marx, das steht für Kuczynski fest – auch wenn heute nur 100 Minuten Zeit sind, ein Theaterstück lang eben.

Talivaldis Margevics hat auch gerechnet. In Riga, wo er lebt, gibt es „Das Kapital, Band 1“ von Karl Marx auf dem Schwarzmarkt für 1 000 Euro. „Mein Kampf“ von Adolf Hitler kostet 20 Euro. Ein Mal Marx ist also so viel wert wie 50 Mal Hitler. X mal Ware A gleich Y mal Ware B, rechnete Karl Marx, sei die Grundgleichung der kapitalistischen Produktionsweise.

Christian Spremberg hat Kapital akkumuliert. Er nennt 20 000 Schallplatten sein Eigen und lässt die hören: Die „Travellers“ besingen den Pleitegeier im Portemonnaie, sozialistische DDR-Liedermacherei rät zu „carpe diem“, Ford wirbt für den neuen Taunus, das Schlossgespenst Hui Buh klappert mit seiner Kette.

So geht es zu auf einer Theaterbühne, wenn das Regiekollektiv Rimini-Protokoll loslegt. Nicht Handlung zählt, sondern nur das Thema. Nicht Schauspieler spielen, sondern Laien geben sich selbst. Und nicht die Regisseure geben ihre Interpretation des Sujets vor, sondern die Biografien der „Experten aus der Wirklichkeit“ mäandern in- und auseinander. So entstehen aus Menschen gemalte Collagen, und mit ihnen gehören Rimini-Protokoll zum angesagtesten im deutschsprachigen Theater der Gegenwart. Am Samstag war Uraufführung von „Das Kapital“ im Düsseldorfer Schauspielhaus.

Mannesmann und Ackermann? Unterschicht? BenQ? Hartz IV? Heuschrecken? Auf die Vorlagen, die sich der Kapitalismuskritik in Marx’ Heimat anno 2006 aufdrängen, verzichten Helgard Haug und Daniel Wetzel. Die Regisseure halten der Marktwirtschaft nicht den Zeigefinger vor, sie schubsen den Konsumbürger einfach hinein in die Widersprüchlichkeit seiner Gesellschaft.

Es ist beinahe ein wenig zu viel an Assoziationen aus anderthalb Jahrhunderten Werk-, Geistes- und Gesellschaftsgeschichte rund um Marx, Macht und Markt, die über dem Zuschauer ausgeschüttet wird. Aber der Konsument von Rimini-Protokoll-Produkten soll selber urteilen. Zur Unterstützung – nicht mehr – erhält er Stich- und Schlagworte aus den Biografien der Darsteller, die auch seine eigenen hätten werden können.

Jochen Noth, 65 Jahre alt, trägt Anzug. Jochen Noth, Mitte zwanzig, ebenfalls, als er einen Auflauf provozierte, weil er öffentlich Geld verbrannte – per Feuerzeug, nicht per Spekulation. Das Filmdokument in Schwarz-Weiß aus Noths Jugend läuft auf den zwei Bildschirmen in der Bücherregalwand, die als Kulisse für „Das Kapital“ dient. Noth war in den 60er-Jahren Mitglied im Sozialistischen deutschen Studentenbund (SDS), saß im ZK des Kommunistischen Bundes Westdeutschland, kam in Haft, exilierte nach China, kehrte nach einer Amnestie 1988 zurück, wurde Unternehmer und ging vor ein paar Jahren mal Pleite. Einmal Marx und zurück.

In seiner Ausgabe des „Kapitals“, die Kernsätze hatte Noth einst penibel mit Lineal unterstrichen, findet er ein altes Flugblatt des AStA aus Heidelberg, auf dessen Rückseite ein paar obszöne Zeichnungen. „Daran sehen Sie, was uns damals noch so interessiert hat“, sagt Noth. Und er liest aus dem Bericht einer jungen Genossin vor, die schildert, wie weiland zu Heidelberg die Teilnehmerzahl des Marx-Lektürekurses – einmal die Woche von 22 bis 24 Uhr – rasch von 80 auf vier schwand.

Recherche, Anzeigen, Mundpropaganda – so haben die Regisseure Haug und Wetzel ihre acht Darsteller zusammengeklaubt.

Da sind die, die Marx studieren wie Wirtschaftsprofessor Kuczynski, der letzte Direktor des Instituts für Wirtschaftsgeschichte der DDR. Da sind die, die einst dem verfielen, was andere aus Marx machten, wie Noth. Da sind die, die unter dem, was andere aus Marx machten, leiden mussten wie der Filmemacher Margevics, den die UdSSR als Dissidenten gängelte, oder die Russisch-Dolmetscherin Franziska Zwerg, die sich aus der DDR weg in die BRD sehnte.

Da sind die, die den Versuchungen des Kapitalismus lange nicht widerstehen konnten, wie der Elektroniker Ralph Warnholz, der der Spielsucht verfiel und heute eine Selbsthilfegruppe leitet. Da sind die, die im Kapitalismus eigentlich keine Chance hätten, wie Christian Spremberg, Plattensammler und Call-Center-Agent, der von einem Auftritt bei „Wer wird Millionär?“ träumt. Die einzige Ausgabe von „Das Kapital, Band 1“, die er lesen kann, besteht aus fast einem Dutzend Bänden, weil sie in Blindenschrift verfasst ist.

Aus ihren Ich-Erzählungen und aus Marx’ Kapital haben Haug und Wetzel ein Korsett geflochten. Kaum drei Wochen haben sie geprobt, und der Ablauf des Stücks ändert sich täglich.

Zehn Tage vor der Premiere sitzt das Ensemble auf vier abgewetzten Couchs im Carré auf der Probebühne: Textstudium. „Diesen Teil überspringen wir heute, weil es ihn noch nicht gibt“, sagt Regisseur Wetzel. Kulis kritzeln über den neusten Ausdruck. „Kriege ich hier zwei oder drei Minuten?“ will Jochen Noth wissen. Und wohin mit den sieben Regeln aus der Selbsthilfegruppe von Ralph Warnholz? Die Sich-selbst-Darsteller sind bei Rimini-Protokoll Co-Regisseure und Co-Autoren.

Nach zehn Minuten schauen sie einander reichlich hilflos an. „Ein bisschen Verwirrung ist doch gut“, sagt Regisseur Wetzel, „dann kommt auch mal was Spontanes“. Rimini-Theater ist auch Happening und Performance.

Seit 2002 ist das Rimini-Kollektiv aktiv. Haug, Wetzel und ihr Kollege Stefan Kaegi, der bei „Das Kapital“, das noch in Berlin, Frankfurt und Zürich aufgeführt wird, nicht dabei ist, haben sich beim Theaterstudium in Gießen kennen gelernt, dem Hort der kreativen Bühnenkünstler hier zu Lande.

Bekannt wurden sie mit „Deutschland 2“, als sie von Bürgern in Bonn eine Bundestagssitzung in Berlin live nachsprechen ließen – von neun Uhr bis Mitternacht. In „Sabenation“ kamen Ex-Mitarbeiter der in Konkurs gegangenen belgischen Airline Sabena zu Wort. In „Wallenstein“ erzählten Ex-CDU-Politiker und Vietnamveteranen von Macht und Verrat – ein Schiller-Stück ganz ohne Schiller.

Rimini-Protokoll will authentisch sein. Die Experten sollen ihr Leben spielen und nicht die Rolle ihres Lebens. Als Ralph Warnholz bei der Probe zu „Das Kapital“ posiert wie ein Seifenoperndarsteller, wünscht sich Regisseurin Haug „den alten Warnholz zurück, der einfach nur seine Geschichte erzählt“.

Warum ausgerechnet „Das Kapital“? „Um das Buch kommt man nicht herum“, sagt Helgard Haug. „Es polarisiert wie kaum ein zweites, aber es gibt eine neue Offenheit, sich mit ihm wieder zu befassen.“ Auch wegen BenQ, Ackermann & Co. „Den Kapitalismus genießen wir, und wir finden ihn auch in vielem scheußlich“, sagt Haug. Das ist ihr Stück: eine Zustandsbeschreibung.

Zu diesem Zustand anno 2006 gehört auch, dass es wieder Revolutionäre gibt, die sich von Marx inspirieren lassen. Sascha Warnecke ist keine 20, trägt ein tarngrünes T-Shirt mit einem roten Stern auf der Brust und wünscht sich, dass 2015 die sozialistische Revolution in Deutschland die Verhältnisse umgekehrt hat. Gegen McDonald’s hat der DKPler schon einmal tagelang protestiert, und ein Passant „hat seine Cola spontan vor dem Filialleiter auf den Boden gekippt“. Aus der Bücherwand blickt Ex-Revolutionär Noth auf seinen Nach-Nachfolger hinunter.

Ein bisschen Kompromiss gestattet sich zum Schluss allerdings auch Rimini-Protokoll. Da tritt Ulf Mailänder auf und erzählt in Ich-Form die Geschichte des Millionenbetrügers Jürgen Harksen, der mit seiner „Faktor 13“-Masche einst Reiche um Hunderte von Millionen prellte, weil ihre Gier – Marx sah das schon 1867 voraus – keine Grenzen kannte.

Der echte Harksen kann leider nicht mittun beim Rimini-Theater: Er sitzt wegen Betrug im Gefängnis. Aber Mailänder schrieb seine Biografie – wie auch die des Ex-Baulöwen und Deutsche-Bank-Abzockers Dr. Jürgen Schneider.

Bei ihrem nächsten Rimini-Projekt sollen dagegen leibhaftige Vorstands- und Aufsichtsratschefs mit von der Partie sein – und proben müssten die gar nichts

Haug und Wetzel wollen im kommenden Frühjahr Theaterbesucher direkt auf eine Bühne des wahren Wirtschaftslebens mitnehmen: auf die Hauptversammlung eines Großkonzerns.


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Karl Marx: Das Kapital, Erster Band