03.02.2019 / www.wz.de
Aus zig kleinen bis großen Monitoren flimmert ein Wirrwarr an Alltagsszenen und Stadtansichten aus neun europäischen Metropolen. Opernsänger von dort werden eingeblendet, die dazu parallel oder allein Arien beziehungsweise Teile daraus singen. Zusammenhanglose Texte erscheinen. Rechts und links im Parkett, auf den Balkonen, auf der Bühne und im Orchestergraben befinden sich Musiker des Sinfonieorchesters Wuppertal, die zu den Videos Musikfetzen spielen. Ab und an kommt eine gewaltige Geräuschkulisse aus den Lautsprechern. Alles scheint ein heilloses Durcheinander zu sein, ohne Sinn und Verstand zusammengewürfelt. Dieses handlungslose Geschehen ist nicht mehr und nicht weniger als der zweite Teil aus John Cages fünfteiligem Zyklus „Europeras“, der im Opernhaus zu erleben ist.
Der erste Teil ist genauso konsequent unstrukturiert. Zehn Sänger des Wuppertaler Ensembles inklusive Gäste stehen mal auf dem einen, mal auf dem anderen der 64 Felder des Bühnenbodens, geben gesanglich erstklassig berühmte Arien oder Arienschnipsel aus Opern des 18. und 19. Jahrhunderts zum Besten. Doch deren Handlung ist konträr zum Inhalt: Ist etwa das Lied traurig, wird Freude dargestellt. Auch die vielfältigen Kostümierungen passen nicht dazu. Mit Requisiten wird zusammenhanglos hantiert, oder sie werden einfach nur auf die Bühne gebracht und wieder beiseite geschafft. Lichttraversen bewegen sich auf und ab, ebenso etliche Bühnenbilder.
Statisten und Bühnentechniker geben sich ein Stelldichein. Auch das Publikum wird per Anweisungen auf Karten zum Mitmachen aufgefordert. Nach genauen Zeitvorgaben – dafür gibt es unter anderem die beiden Digitaluhren - darf mit Bonbonpapier geraschelt, getuschelt oder gewinkt werden. Im Graben kommt man ohne Dirigenten aus. Jedes Mitglied des kleinen Kammerorchesters ist ein Solist. Sie spielen unabhängig voneinander gediegen ihre Noten – ein musikalischer Opernmischmasch ist oft das Resultat.
Es ist also viel los. Eine Menge ist da an Opernliteratur aus zwei Jahrhunderten, wortwörtlich zitiert. Wer aber beim Hören und Sehen den Verstand einschaltet, begibt sich aufs Glatteis. Das Kuddelmuddel ist gewollt. Denn John Cage dekonstruiert das europäische Musiktheater (Synonym dafür sind auch die neun Kulturmetropolen im zweiten Teil), zerlegt es in seine Einzelteile und lässt es nach dem Zufallsprinzip und bestimmten Zeitvorgaben wieder neu zusammensetzen.
Das einzig verlässliche sind die 64 Felder auf dem Bühnenboden. Sie nehmen Bezug zu dem chinesischen Buch der Wandlungen „I-Ging“. Darin kommen 64 Zeichen vor, die bei Orakellegung für viele Situationen Handlungsanweisungen und Ratschläge geben.
Das Regieteam um Daniel Wetzel vom vielfach ausgezeichneten „Rimini Protokoll“ trägt Cages Absicht exzellent Rechnung. Charaktere werden folgerichtig ad absurdum geführt, wenn etwa Madame Butterfly mit einer Rüstung erscheint. Es wird sogar noch eins drauf gesetzt, das Jetzt nicht außer Acht gelassen. Europa als EU wird aufs Korn genommen, wenn der Schriftzug „Libretto-Prekariat“ erscheint. Der Text „Wir sind die SZENen-Buddhisten“ soll wohl den Istzustand an Kulturhäusern reflektieren. Es wird viel mit Symbolen gespielt. Der Titel der Inszenierung „Play* Europeras 1&2“ ist also bewusst gewählt.
Für diejenigen, die offen sind für Irrationalitäten, die Aufhebung von eingefahrenen Mustern, ist diese Produktion deshalb ganz großes Kino. Diese Realisierung der beiden Cage-Nummern macht es möglich, den Blick zu erweitern, offenherzig mit fremden Opernstrukturen umzugehen und sich konstruktiv damit auseinanderzusetzen.
Etliche Premierengäste scheinen mit der für sie ungewohnten Thematik – obwohl diese mehr als 30 Jahre alt ist - überhaupt nicht klar zu kommen. Zuschauer verlassen vor, in der Pause und danach den Ort des Geschehens. Fast alle aber, die diese fesselnde Kurzweil bis zum Schluss mitverfolgt haben, zeigen sich anhand von stehenden Ovationen begeistert. Nur ganz wenige bleiben wie zur Salzsäule erstarrt wohl ratlos sitzen.