Von Ann-Marie Arioli
01.02.2002 / DRAMATURG Zeitschrift der Dramaturgischen GesellschafT Seite 16/17
„Deutschland 2“: 666 Bürger repräsentieren die 666 Abgeordneten des Bundestags. Wähler spielen Gewählte – und das, hätte Bundestagspräsident Wolfgang Thierse es nicht verhindert, im alten Plenarsaal in Bonn während Theater der Welt 2002. Kann man die 666 als Laien bezeichnen? Die Fusion „Rimini Protokoll“, bestehend aus Stefan Bernd Ernst/Stefan Kaegi (zusammen das Label „Hygiene heute“) und Helgard Haug/Daniel Wetzel, würden sie wohl eher im doppelten Sinn als Experten bezeichnen: Experten als Wähler, die ihre Volksvertreter vertreten, und als Darsteller ihrer selbst. Sie sind in der Wahrnehmung von „Rimini Protokoll“ Experten der eigenen Biographie. „Es geht uns darum, den seriösen Versuch zu unterschiedlicher Menschen öffentlich zu machen, das gesprochene parlamentarische Wort mitzusprechen und nicht darum, Politiker nachzuspielen.“
„Wer eine ihrer Arbeiten, ob am Berliner Prater (‚Apparat Berlin’), am Frankfurter Mousonturm (‚Kreuzworträtsel Boxenstopp’), beim Münchener Spielartfestival (die Audiotour ‚System Kirchner’) oder den ‚Meerschweinchenkongress’ am Tanzquartier Wien gesehen hat, weiß sehr genau, dass solche Überlegungen keine Rechtfertigungsversuche sind. In oft komplexen Anordnungen suchen sie konsequent nach neuen Möglichkeiten der Repräsentation auf dem Theater jenseits eines angestaubten ‚Als ob’. Und erzeugen so spielerisch und humorvoll fesselnde Momente von, ja, Schönheit und Kraft, wie man sie im handwerksfixierten Sprechtheater selten noch findet.“ (taz vom 16.3.2002)
Aus der Suche nach neuen Reibungsflächen und damit nach neuen theatralischen formen resultiert hier das Finden von anderen Darstellern, von Menschen, die andere als Theaterberufe haben, die etwas verkörpern und etwas zu erzählen haben. Sie vollziehen die Aufgabe des Darstellens mit einem anderen Hintergrund. Die Konzepte von Ernst/Kaegi und Haug/Wetzel verlangen auf der einen Seite die Biographie, andererseits das Expertentum. Für „shooting bourbaki“ am luzernertheater wurden Jugendliche zwischen 11 und 15 gesucht. Das Aggressionspotential männlicher Jugendlicher und die Kanäle spielerischer Gewaltanwendung sollten Thema sein. Das Casting brachte 5 Jungs zusammen, die sich auf diesem Gebiet noch nicht spezialisiert hatten, keinem Computerclub und keinem Schießverein angehörten. Im Laufe der Recherchearbeit wurden sie, ebenso wie Haug/Kaegi/Wetzel mit schießfreudigen Erfahrungen geimpft. Das Nachstellen, Umsetzen und Beschreiben dieser Erfahrungen führte zu einem Abend, dessen Schwanken zwischen Fake und Realität, Raum für Projektionen und Diskussionen zurückließ. „Kreuzworträtsel Boxenstopp“ am Mousonturm Frankfurt arbeitete mit Bewohnerinnen eines Altersstifts zum Thema Geschwindigkeit. Die fiktive Geschichte von angeblich ehemaligen Rennfahrerinnen wurde kombiniert mit den Biographien der Damen und daraus ein Projekt entwickelt, das einmal mehr Realität bzw. Authentizität parallelisiert mit Fiktion. „Zu viele Jahrzehnte wurden verschwendet, die Wirklichkeit in Kunst zu übersetzen’, erklärt Kaegi, ‚uns ist das zu indirekt.“ (Kulturspiegel 8/2002)
Menschen als Räume
Professionelles Theater im Gefängnis mit Gefängnisinsassen, Theater mit Behinderten und viele ähnliche Projekte arbeiten meist in Verbindung mit einem spezifischen Raum, einem Raum, der nicht Theater ist, und ganz bewusst gewählten Darstellern, mit Menschen, die sich über das Theater einen Raum erobern oder ihr alltägliches Umfeld und sich selbst präsentieren. Diese Projekte suchen in ihrer radikalsten Form nicht nur nach der Einmaligkeit der Zusammensetzung von Raum, Stoff und Ästhetik, sondern sie wollen auch die Unverwechselbarkeit der Darstellenden. Zu Höchstform in diesem Bestreben bringt es beispielsweise „Victoria“ aus Gent (Belgien) mit Jugendlichen, die sich in einem fiktionalen Setting mit ihrem Alter, ihrer spezifischen Erfahrung und ihren Problemen darstellen. Da „Victoria“ mittlerweile ziemlich lange tourt, stellt sich irgendwann also die Frage nach Umbesetzungen – oder der Unmöglichkeit weiterer Aufführungen, denn die Darsteller sind aus ihren Rollen herausgewachsen.
Die Gratwanderung zwischen Theater mit nichtprofessionellen Theatermenschen und dem Anspruch, die Form des Theaters zu erneuern, unverwechselbare, zeitgenössische Erlebnisse zu liefern, stößt hier auf eine Schwierigkeit. Im Gegensatz zum Laientheater kann das Ziel nicht Kontinuität sein. Nach möglicherweise aufwändigem Auswahlverfahren und einem großen Zeitaufwand bei wenig Geld für die Beteiligten endet das Experiment des „Heraustretens“ auf eine „Bühne“ oft abrupt mit der letzten Vorstellung, der soziale Zusammenhang, der entstanden ist, löst sich auf, und die Macher verschwinden. Wie geht man damit um?
Das Publikum wechselt die Seite
Was sind die Beweggründe, nicht mit Schauspielern zu arbeiten? Traditionellerweise entspringt die Arbeit mit Laien theaterpädagogischen Anliegen und damit häufig dem Wunsch nach Anbindung eines jüngeren Publikums ans Theater. Andererseits stellt sie eine Notwendigkeit das für Orte, wie beispielsweise Luzern oder auch Düsseldorf, wo das professionelle Theater auf eine so aktive Laientheaterszene trifft, dass es ungesund wäre, nicht von der theateraktiven Bevölkerung zu profitieren, zudem stellt sich hier dringend die Frage, wie man produktiv den scheinbaren Graben zwischen professioneller und nicht-professioneller Arbeit von Laien und Theatermachern so zu verbinden, dass es nicht nur um den etwas besseren Regisseur geht, sondern eine Synergie von Konzept, Darstellern, Ort und Umsetzung entsteht, die beides ist: lokal angebundenes Theater und eine Erweiterung der Form?
Und schließlich gibt es Projekte, wie die oben beschriebenen, die in seltsamem Spagat zwischen lokaler Anbindung über die Darsteller und einem internationalen Anspruch pendeln, Produktionen, die von Festival zu Festival reisen und Menschen jenseits der Theaterrampe transferieren.
Ann-Marie Arioli
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