Von Bernd Aulich
28.11.2010 / Ruhr Nachrichten
Mancher Passant, der den Scharen junger Müllsammler auf ihren nächtlichen Touren durch Istanbul begegnet, weicht ihnen aus. Das Theaterkollektiv Rimini Protokoll hat vier von ihnen auf die Bühne geholt.
Bayram Renklihava hat erst bei seiner Einschulung in Mersin an der türkischen Riviera erfahren, dass die vermeintlichen Eltern seine Großeltern waren und die wahren Eltern der Arbeit wegen in Istanbul lebten. Auch die drei kurdischen Vettern aus Anatolien, der gesprächige Abdullah Dagacar, der gewitzte Aziz Idikurt und der stille Mithat Icten, suchen am Bosporus ihr Glück auf der Straße. Sie sammeln Eisen, Kunststoffe und Pappe. Ihre mannshohen schweren Karren mit den riesigen Säcken, die bis zu 300 Kilo Müll fassen, haben sie mitgebracht auf die Bühne von Pact Zollverein.
Koproduktion der Kulturhauptstädte
"Herr Dagacar und die goldene Tektonik des Mülls" heißt das stürmisch gefeierte Theaterwunder aus Istanbul, mit dem die Theatermacher Helgard Haug und Daniel Wetzel in einer Koproduktion der Kulturhauptstädte Ruhr und Istanbul die in der Millionenmetropole am Bosporus geächteten Schatzsucher vom unteren Rand der Gesellschaft aus ihren Alltag erzählen lassen. Und sie erzählen so berührend, so anschaulich, als hätte sich Scheherazade leibhaftig in einen türkischen Müllsammler verwandelt.
Dokumentarisches Theater
Vital, unverstaubt und fein rhythmisiert ist dieses dokumentarische Theater am Puls der Gegenwart. Wir lernen die Müllsammler von ihrer menschlichen und stolzen Seite kennen. Sie fühlen sich frei, weil sie niemandem untertan und frei sind von den Konsumverheißungen einer Gesellschaft, von deren Überfluss sie profitieren. Die von ihnen auf die Müllsäcke projizierten Fieberkurven der Börse mit den heftigen Preisausschlägen für ihre gesammelten Rohstoffe korrespondieren sonderbar mit den aktuell eingeblendeten Ausschlägen des Erdbeben-Seismographen von Istanbul.
Berührende Momente
Wenn sie auf der Bühne einen Sack Müll ausschütten und die keineswegs stinkenden Funde sortieren, ist das ein ähnlich berührender Moment wie die amüsante Schattenspiel-Bustour des Karagöz-Spielers Hasan Hüseyin Karabag, die verschwommenen Videoprojektionen aus dem Dorf im kargen Anatolien, wo es nur Steine gibt, oder Abdullahs Alptraum vom Tod seiner Kinder und ihrer Beerdigung in Müllsäcken.