Irrsinniger Schrebergarten. Nachrichten mit Rimini Protokoll

Von dir

23.02.2008 / epd medien Nr. 15

 
epd Am Anfang zeigt das Bühnenbild den Berliner Sozialpalast in der Pallasstraße in Schöneberg. Ein Balkon neben dem anderen, eine Satellitenschüssel neben der anderen. Martina Englert, Marion Mahneke und Sushila Sharma-Haque betreten die Bühne als Erste. Martina und Sushila stellen sich als Dolmetscherinnen und Bewohnerinnen des Wohnblocks vor, in dem insgesamt 2000 Menschen leben. Martina sagt, sie habe keinen Fernseher, darum gebe es an ihrem Balkon auch keine Satellitenschüssel, sie informiere sich am liebsten über das Radio. Sushila berichtet, sie schaue morgens um sechs immer das "Morgenmagazin" von ARD oder ZDF, um zu wissen, wie das Wetter wird.

Wir sind in einem Stück der Theatergruppe Rimini Protokoll. Die drei Frauen und sechs Männer, die an diesem Abend auf der Bühne stehen, sind keine Schauspieler. Sie sind "Experten des Alltags", wie die Theatermacher ihre Darsteller nennen. Sie alle haben im weitesten Sinne mit Nachrichten zu tun. Denn das Stück, das im Schauspiel Frankfurt gezeigt wird, heißt "Breaking News - ein Tagesschauspiel".
Gemeinsam mit den Zuschauern sehen die neun Darsteller live Nachrichtensendungen aus aller Welt: russische, venezolanische, arabische, pakistanische und natürlich auch deutsche. Die Übersetzer erklären dem Publikum die Nachrichten aus Syrien, Kuba oder Island. Der Übersetzer der "Tagesschau" heißt Walter van Rossum. Er hat kürzlich ein Buch über die Nachrichtensendung geschrieben: "Die Tagesshow - Wie man in 15 Minuten die Welt unbegreiflich macht". Van Rossum macht auf der Bühne einen Kopfstand und sagt, man müsse den Standpunkt wechseln, um die "Tagesschau" besser zu verstehen. Sie zeige die Welt aus der Sicht von Merkel und Beck und verwandle sie so in einen "irrsinnigen Schrebergarten".
Helgard Haug und Daniel Wetzel, den beiden Dramatikern von Rimini Protokoll, geht es in "Breaking News" jedoch nicht um plumpe Medienkritik oder gar um gut gemeinte Medienpädagogik. Es geht um unser Leben mit den Medien, um den kleinen Ausschnitt, den das Fernsehen von der Welt zeigt, und vor allem um das, was wir selbst daraus machen - also unser Bild von der Welt.
Die Riminis haben ihre Nachrichtenprofis gut ausgewählt: Sushila war einmal Redakteurin der Deutschen Welle. Der Isländer Símon Birgisson, der sich so brennend für "the herring issue" interessiert, den Bericht über den knapp werdenden Hering, mit dem das isländische Fernsehen seine Nachrichten aufmacht, ist TV-Moderator und investigativer Journalist in Reykjavik. Andreas Osterhaus, Chef vom Dienst bei AFP, führt an diesem Abend Regie, leitet die Konferenz der Kollegen, schaltet von einem Sender zum anderen und legt dabei die typische lässige Konzentriertheit eines altgedienten Nachrichten-Haudegens an den Tag.
Auch Hans Hübner ist dabei, der einstige Afrika-Korrespondent der ARD, dessen Berichte in "Tagesschau" und "Tagesthemen" durch seinen angenehm ruhigen, erzählerischen Ton auffielen. Das Hektische, Atemlose vieler anderer Krisen-Korrespondenten ging Hübner ab. Dafür schaute er hin und war einer der wenigen, die die Landung der Amerikaner in Somalia schon zu Beginn, im Dezember 1992, als Inszenierung entlarvten. Er zeigte, dass die Kameras bereits stationiert waren, als die Amphibienfahrzeuge des amerikanischen Militärs an Land gingen. Ausschnitte aus diesem Beitrag sind irgendwann an diesem Abend auf den vielen Bildschirmen auf der Frankfurter Bühne zu sehen. Hübner, der in jungen Jahren auch mal Theaterkritiker war, zitiert zwischendurch aus den "Persern" von Aischylos. Auch in diesem Stück geht es um eine Nachricht, die von einem Boten überbracht wird: die von der Niederlage des persischen Königs Xerxes.
"Rimini ist das Heißeste, intelligent Überraschendste, das die internationale Theaterszene derzeit zu bieten hat", schrieb der Theaterkritiker des "Tagesspiegels", Peter von Becker, vor einem guten Jahr. Das war, bevor Rimini Protokoll für "Karl Marx, das Kapital" den Mülheimer Dramatikerpreis erhielt, den Sonderpreis des Deutschen Theaterpreises Faust und den Europäischen Theaterpreis in der Kategorie Neue Realitäten im Theater. In der Tat ist es verblüffend, wie Rimini Protokoll und ihre Experten an so einem Theaterabend den Blick für neue Realitäten frei machen. Selbst altgediente Nachrichtenjournalisten und Medienkritiker reiben sich hinterher verwundert die Augen. Realität und Berichterstattung, Medienkritik und Spiel, Illusion und Inszenierung schieben sich übereinander und ergeben so einen großen Assoziationsraum. Anregender und lebendiger als hier kann das uralte Medium Theater kaum sein.
dir
epd medien Nr. 15 vom 23. Februar 2008
http://www.epd.de/medien/medien_index_54553.html


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