Von Dimo Rieß
24.04.2024 / LVZ
Sobald sich das Publikum auf die im Saal verstreuten Stühle verteilt hat, erlischt das Licht. Man mag kurz an Thomas Bernhards „Theatermacher“ denken, dessen Protagonist Bruscon verzweifelt, weil er das Notlicht nicht löschen darf, was er aus künstlerischen Gründen für geboten hält. In der Residenz des Schauspiel Leipzig ist es gegen Sicherheitsauflagen möglich. Kein Lichtpunkt nirgends. Mit dem faszinierenden Effekt, dass sich selbst die unmittelbaren Sitznachbarn in undurchdringlichem Schwarz auflösen. Schon ist man Teil der „Société Anonyme“.
Nichts Bedrohliches verbreitet diese Dunkelheit. Sie schützt jene, die unerkannt bleiben wollen oder müssen. Der papierlose Hamburger Hafenarbeiter aus Marokko, die Aktivistin aus dem Schwarzen Block, die Patientin mit Psychose. Menschen, die ihre Geheimnisse Theatermacher Stefan Kaegi anvertraut haben. Kaegi, Teil von Rimini Protokoll und derzeit Gastprofessor am Centre of Competence for Theatre der Uni Leipzig, hat „Société Anonyme“ am Deutschen Schauspielhaus Hamburg auf die Bühne gebracht. Am Dienstagabend feierte die adaptierte Produktion Leipzig-Premiere.
Berichte, Beichten, Bekenntnisse
Jede Bildhaftigkeit fehlt. Die Konzentration richtet sich auf das Ohr. Eine Frauenstimme erzählt von Stimmen, die sie hört. Stimmen in ihrem Kopf. Schizophrenie lautet die Diagnose, die die betroffene Anwältin geheim hält, das soziale Stigma fürchtend. Sie erzählt sachlich, fast distanziert. Und gibt doch einen pointierten, nachvollziehbaren Einblick.
Überhaupt fällt auf in diesem Sammelsurium der Berichte, Beichten, Bekenntnisse, wie reflektiert erzählt wird, ohne zu dramatisieren, in einer angemessenen Sprache, die fast Unerträgliches zugänglich macht. Etwa die Leidensgeschichte einer Frau, die das Trauma einer Vergewaltigung als Kind nie verwunden hat. Später spricht ein Steuerberater über dunkle Flecken im Steuerrecht. Ein Pfarrer über das gesichtslose Beichten. Und ein Musiker über seine Besuche eines Darkrooms. Das Geheimnis kann auch eines der Lust sein.
Nähe in der Residenz fast schon Komplizenschaft
Der Mensch bewertet meist Äußerlichkeiten, die in diesem Theater-Arrangement keine Chance haben. Trotzdem stellt sich Nähe ein zu den Betroffenen, manchmal fast bis zur Komplizenschaft. Die einzige Chance, legal im Land zu bleiben, sei zu heiraten, erzählt der Hafenarbeiter: „Willst du mich heiraten?“ Ein spontanes Ja ist im Saal zu hören.
Die Musikerin Gül Pridat, selbst blind und in der Dunkelheit zu Hause, wie sie in einer Einführung erzählt, führt durch den Abend. Mit Musik und zum Teil im kurzen Dialog mit den Stimmen der Betroffenen. Die raumfüllende Sound-Montage simuliert die Anwesenheit der anonymen Stimmen. Das ist Teil der gut aufgehenden auditiven Dramaturgie. Atmosphärische Geräusche, etwa aus dem Hamburger Hafen, verstärken die Vorstellungskraft.
Einfach mal den Pullover ausziehen
Gegenstände, die es zu ertasten gilt, der Geruch des Parfüms, das auch ein anonym erzählender Scientologe trägt, bis hin zu einem kurzen Theater-Regenguss sorgen für einen überraschend sinnlichen Abend. Es sind zugleich Momente, die einen die starre Sitzposition aufgeben lassen und langsam dazu führen, die Anonymität der Dunkelheit selbst auszutesten. Man könne, fordert der Darkroom-erfahrene Musiker, doch mal den Pullover ausziehen.
„Société Anonyme“ wertet nicht, gibt denen, die ihr verborgenes Tun mit Vergnügen betreiben, ebenso eine Plattform wie den vom Schicksal Gepeinigten. Eine ungewöhnliche Theatererfahrung, die sensibilisiert für Geheimnisse, die Teil jeder Identität sind.