Von Petra Rathmanner
21.12.2006 / Wiener Zeitung
Dieses Theater steht anfangs am Schwedenplatz, ist 17 Meter lang, 15 Jahre alt und hat 320 PS: Ein LKW samt Hänger, der für die Performance „Cargo Sofia – Wien“ in einen mobilen Zuscherraum umgebaut wurde. Auf der einen Längsseite der Ladefläche sitzen 47 Zuschauer, aufgefädelt auf einer Tribüne; auf der gegenüberliegenden Seite öffnet sich ein Panoramafenster, vor dem sich ab und zu eine Videoleinwand entrollt und Szenen der Transitroute Bulgarien – Österreich zeigt. Durch den Abend führen und fahren die beiden bulgarischen Kraftwagenlenker Ventzislav Borissov und Nedjalko Nedjalkov. Sie kutschieren das Publikum knapp zwei Stunden lang durchs nächtliche Wien und berichten vom Cockpit aus via Mikroport von ihrem Leben auf Europas Straßen.
Erzählt wird etwa von angewandten Bestechungsmethoden. An der Grenze zwischen Bulgarien und Serbien ist es hilfreich, Zigarettenschachteln bereit zu halten, in Kroatien beschleunigen Euroscheine die Weiterfahrt, während in Kuwait ein Stapel Playboy-Hefte mehr wert ist als Bargeld. Aber Vorsicht: Wer bei solch einem Deal erwischt wird, landet im Gefängnis.
Aberwitziges, Abenteuerliches, Trauriges erfährt man aus dem Alltag der beiden Asphalt-Cowboys, die ihre Frauen nur selten sehen und ihre Kinder kaum kennen, weil sie wochenlang herumtingeln – und dabei einen Hungerlohn von 5 Cent pro gefahrenem Kilometer verdienen; das Warten an den Grenzen, das Warten auf das Be- und Entladen ist unbezahlt. Vor allem diese Details aus dem bisweilen mafiösen Speditionswesen sind es, bei denen man hofft, dass alles „nur Theater“ sei. Ist es aber nicht. Der Schweizer Theatermacher Stefan Kaegi, der diese Tour konzipiert und inszeniert hat, ist einer der Protagonisten jener „Reality-Bewegung“, die solche Geschichten aus der Wirklichkeit regelmäßig auf die Bühne bringt.
Kaegi ist Mitglied des deutschen Künstlerkollektivs „Rimini Protokoll“, das sich in den neunziger Jahren an der Universität Gießen, der Kaderschmiede für postdramatisches Theater, formierte. Neben Kaegi arbeiten Helgard Haug und Daniel Wetzel in wechselnden Konstellationen unter diesem Label. Eine Konstante in der Theaterarbeit von „Rimini Protokoll“: Die Wahrnehmung von Wirklichkeit. Realitäten werden aufgebrochen, Facetten beleuchtet und Situationen hinterfragt. Die Themenpalette ist umfassend: Sie reicht vom Umgang mit dem Tod in unserer Gesellschaft (im Rahmen der Produktion „Deadline“ erzählten Grabredner und Steinmetze vom Geschäft mit Toten) über Mechanismen des globalen Turbokapitalismus (in „Call Cutta“ wurden Berliner Theaterbesucher etwa von indischen Tele-Arbeitern auf einer Entdeckungstour durch die eigene Stadt begleitet) bis hin zu staatspolitischen Hintergründen - Diplomaten und Offiziere plauderten in „Schwarzenbergplatz“, das 2004 in der Wiener Burg-Spielstätte Kasino Premiere hatte, Geheimnisse der hohen Diplomatie aus.
Die Rimini-Protokollisten arbeiten stets mit Laien, die sie bei der Recherche kennen gelernt haben und, die sich auf der Bühne selbst darstellen. Diese Methode, die an Dokumentarfilme erinnert, wird von „Rimini Protokoll“ äußerst subtil, stets überraschend und mit großer Neugier auf die Welt angewandt.
Es ist diese Authentizität, die auch die Truck-Fahrt „Cargo Sofia – Wien“ zu einem besonderen Erlebnis macht. Die Fahrt zeigt nicht das touristisch aufpolierte Wien, sondern man erlebt die Stadt, wie Truckfahrer sie sehen. Die Reise führt an die Peripherie zu den tristen Arbeitsstätten des Transits, zu Lagerhallen und Verladerampen, zu Großmarkthallen und LKW-Rastplätzen. Plötzlich versteht man, warum Fernfahrer mitunter gern Heavy Metall hören. „Highway to Hell“ ist einfach der ideale Sound für diese Kulisse, die in diesem Fall leider Arbeitsrealität ist.