Von Max Glauner
15.07.2010 / STUTTGARTER ZEITUNG
In römischer Zeit errichtete der Mäzen Herodes Atticus in Athen ein zedernholzüberdachtes Gebäude für großen Budenzauber, ein "Odeion", in dem bis zu fünftausend Zuschauer Platz fanden, sozusagen eine Schleyerhalle der Antike. Die Überdachung brannte allerdings schon früh nieder. So hat man zwar von den steil ansteigenden Rängen aus einen spektakulären Blick auf den Westgiebel des Parthenon, doch die Sonne sengt den ganzen Tag unerbittlich in das Halbrund des Herodes-Atticus-Theaters. An Veranstaltungen ist hier im Sommer vor neun Uhr abends nicht zu denken. Einzig die gut erhaltene Bühnenwand bietet am späten Nachmittag etwas Schatten für ein Gespräch mit den Leuten von Rimini-Protokoll. Es ist der erste Probentag vor Ort für das Projekt "Prometheus in Athen", sechs Tage vor der Premiere am heutigen Donnerstag.
Daniel Wetzel lacht. Nein, sagt er, um eine Restitution von griechischer Demokratie, um Volksgewalt und Volksherrschaft gehe es ihnen hier sicher nicht, "das Theater kann demokratische Defizite nicht beheben". Man will hier, an der krisengeschüttelten Wiege der europäischen Demokratie, lieber Fragen stellen, Widersprüche aufzeigen, das Faktische durcheinander bringen. Bereits 2004 lotete Rimini-Protokoll mit seiner Videoarbeit "Hot spots" das Verhältnis von antikem Theater und Tourismus aus. Doch erst mit dem neuen Leiter des Greek Festival, Yorgos Loukos, konnte man an diese Arbeit anknüpfen. "Inzwischen hatten wir mit ,100% Berlin" einen persönlichen und künstlerischen Erfolg, wie Anfragen aus Wien, Athen, Melbourne und Tokio zeigen. Für das Greek Festival lag es nahe, nun auch hundert Athener Bürger statistisch repräsentativ für die 3,2 Millionen Einwohner der Stadt auf die Bühne zu bringen", erzählt Helgard Haug, die mit Daniel Wetzel für "Prometheus in Athen" konzeptionell und künstlerisch verantwortlich ist.
Die Techniker im Herodes-Atticus-Theater unterhalb der Akropolis haben die Videoanlage installiert. Von einem hohen Bühnentor aus soll eine Kamera die Bewegung der hundert plus drei Repräsentanten Athens zwischen zwei und fünfundachtzig Jahren aufnehmen und auf eine Leinwand projizieren. Man wartet auf die dritte Kamera, weil die ersten beiden nicht geeignet waren. Gründe für den Schlendrian sind schnell ausgemacht: Frustration und Ärger über die aktuelle Lage bei der Bühnentechnik allerorten. Müssen sich Freie ohnehin mit zwei oder drei Nebenjobs über Wasser halten, fehlt den Festen seit den jüngsten Parlamentsbeschlüssen das 14. Monatsgehalt. In Frührente geht jetzt keiner mehr.
So wird man bis zur Premiere improvisieren müssen. Das Bühnenrund hat sich nun mit den Darstellern gefüllt. Sie sehen sich zum ersten Mal, staunen über den Raum, den keiner aus dieser Perspektive kennt. Lampenfieber? "Nein", meint Anna-Maria, eine distinguierte Dame aus Rumänien mit griechischem Pass. Den meisten anderen geht es wohl ähnlich. "Vielleicht wäre ich aufgeregt, wenn ich Schauspielerin wäre. Hier vertrete ich ja nur mich und meine Sache", meint Anna-Maria, die ein Resozialisierungsprojekt für Zwangsprostituierte leitet. In Vorgesprächen wurde sie wie die anderen nach statistischen Kriterien - Geschlecht, Alter, Wohnort, nationalem Hintergrund - ausgesucht. Dieses Prinzip aus Vorgängerproduktionen in Berlin und Wien wird dieses Mal mit dem Aischylos-Drama "Prometheus gefesselt" dramaturgisch gebrochen: Gefragt wird nun auch, was die Laiendarsteller mit dem antiken Figurenarsenal zwischen Auflehnung und Anpassung, zwischen Prometheus und den Okeaniden verbinden.
"Kollisionstheater" kann man das mit Daniel Wetzel nennen: Was passiert, wenn das antike Drama gegen die Wand heutiger Zustände rast? Anna-Maria, weil sie zu den Flüchtlingen hält, wählte die von Hera verfolgte Io. Wie Yannis ist sie eine von zwölf Darstellern, die sich auf der Bühne länger zu Wort melden. Yannis, von Beruf Gefängniswärter, fühlt sich mit dem Schmied Hephaistos verbunden, der Prometheus an den Kaukasus schmiedet und kettet. Ihm ist der Applaus sicher, wenn er das Protestlied "Wenn ich aus dem Gefängnis entlassen werde" zum Besten gibt.
Vom jüngsten Generalstreik waren alle betroffen. Verständnis dafür hatten nur wenige. Auf der Großdemonstration gegen die beschlossene Rentenreform war kaum einer der Laiendarsteller. "Ich halte es für wichtiger, hier mitzumachen", sagt einer, der sich auch mit Okeanos identifiziert. Was man mit diesem Theater hier erreichen könne? "Was erreichen die Demonstranten", fragt er zurück. "Wir zeigen immerhin, dass Athen nicht allein durch Massenmedien, Demoskopie und Statistik repräsentiert wird."
Rimini-Protokoll macht so das Durchschnittliche subversiv. Zum Beispiel bekommt die bulgarische Migrantin, die ihren Widerstand gegen unmenschliche Arbeitsbedingungen mit einem Säureattentat bezahlte, nach einem Medienhype, der schnell verhallte, erneut eine Stimme. Damit dies gelingt, probt die kleine Athener Gemeinschaft nun unter den Anleitungen der Assistenten bis Mitternacht ihre Auf- und Abtritte und erste Choreografien, die allgemeine und persönliche Fragen in eingängige Theaterbilder umsetzen.
Am nächsten Tag klappt das Hin und Her der Athener Bürger, das Sich-Sammeln und Sich-Zerstreuen schon besser. Es sind nur noch wenige Probentage bis zur Premiere. Doch schwer zu glauben, dass das fünftausendköpfige Publikum dem Charme dieser Athener Hydra heute Abend nicht erliegt.