Vier Fragen an Helgard Haug

20.04.2025 / Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung Download PDF

Was lesen Sie?

Ich lese immer mehrere Bücher gleichzeitig. Es gibt die dicken Schinken, die ich zu Hause lasse, wenn ich auf Reisen gehe und mich danach sehne, mich wieder in sie versenken zu können. Es gibt die Bücher für das Handgepäck, die ich meist an den Orten zurücklasse, an denen ich sie ausgelesen habe. Und es gibt die Arbeitsbücher, die mich lange begleiten und mit vielen Eselsohren und Unterstreichungen ein Eigenleben führen. Das ist im Moment „Herr der Fliegen“, aus dem ich kommendes Jahr eine Inszenierung machen möchte. Künstlerisch beschäftige ich mich auch gerade sehr intensiv mit der Fra- ge, wie aus einem Buch, durch das sich zwei Menschen blättern, eine interaktive Performance werden kann. Wie kann es dazu einladen, zu erzählen, zu hinterfragen, zuzuhören, Perspektiven zu wechseln? Kommendes Jahr werde ich für das „World Design Capital“ in Frankfurt ein solches großformatiges Buch entwickeln.

Was hören Sie?

Ich höre sehr gern Nachrichten, Polit-Sendungen, Hörspiele und Feature – zuletzt das gerade zum „Hörspiel des Jahres 2024“ ausgezeichnete Stück „Im Auge des Sturms“ von Maxi Obexer. Mit vielen O-Tönen zeichnet sie darin die Ereignisse des 6. Januars 2021 in Washington nach. Drinnen im Kapitol ringen die Repräsentanten darum, die Ergebnisse der Präsidentschaftswahl zu bestätigen, draußen gruppiert sich eine aufgebrachte Menge, die versucht, in das Gebäude einzudringen. Das ist sehr packend nacherzählt und schließt sich auch wieder kurz mit dem „Herr der Fliegen“: Wie wird um Macht gerungen, manipuliert, wie werden Mehrheiten erwirkt, Regeln über Bord geworfen und ausgehöhlt? Musik höre ich am liebsten live – ich finde es unglaublich spannend, MusikerInnen beim Musikmachen zuzuschauen. Mein letztes tolles Konzert-Ereignis war „Streik“ von Enno Poppe im Rahmen des Festivals „Maerz Musik“ in Berlin. Zehn Drumsets standen in einem Halbkreis auf der Bühne. Dann nehmen zehn SchlagzeugerInnen hinter ihnen Platz und legen los. Wirklich großartig.

Was sehen Sie?

Zuletzt habe ich „Her“ von Spike Jonze geschaut – ein Mann verliebt sich in sein intelligentes Betriebssystem. Der Film ist von 2014, spielt aber „in der nahen Zukunft“ – also unserer Gegen- wart. Die Software spiegelt den Menschen, der sie benutzt, so gekonnt – ist immer verfügbar und lässt sich auf alles ein, sodass der Mensch sie in der Interaktion nicht mehr als Software erkennt, sondern mit einem Menschen verwechselt und gekränkt ist, wenn die Software ihm wahrheitsgemäß berichtet, zeitgleich 8316 weitere – ähnlich intensive – Beziehungen zu haben.

Wann haben Sie zuletzt ihre Meinung geändert?

Ich übe mich auf jeden Fall darin, wenn schon nicht meine Meinung, dann doch meinen Standpunkt möglichst oft zu wechseln. Wie anders sieht eine Frage oder ein Sachverhalt, eine Überzeugung aus, wenn ich aus einem anderen Blickwinkel oder durch die Augen eines anderen Menschen darauf schaue? Mich fasziniert die Gleichzeitigkeit verschiedener Meinungen und Perspektiven. Das ist auch ein starker Motor für viele meiner Arbeiten im Theater.