Von Katrin Bettina Müller
25.09.2007 / taz
Das Stuttgarter Schauspiel befragt in drei Projektwochen die Geschichte der RAF. Die erste begann unter dem Titel "Endstation Stammheim" mit Stücken von Pollesch und Rimini Protokoll.
Trimm dich fit, immer rund um die Justizvollzugsanstalt Stammheim. Ein gut bewachter und beleuchteter Weg, auch nachts, ideal für den Sport nach Feierabend. Schon vor dreißig Jahren seien die ersten Jogger ihre Runden um die Mauer des Gefängnisses gelaufen, erzählt eine Sportlehrerin aus dem TV (Turnverein) Stammheim auf der großen Bühne des Schauspiels in Stuttgart. Sie ist eine von den 80 bis 100 Mitgliedern des Vereins, die von Helgard Haug und Daniel Wetzel von der Gruppe Rimini Protokoll für ihre Inszenierung "Peymannbeschimpfung. Ein Training" gecastet wurden.
Und was machen die da? Gymnastik, ehrlich, das ist nun nicht gerade, was man unter dem Titel "Endstation Stammheim", unter dem das Schauspiel Stuttgart drei Projektwochen angekündigt hat, erwartet. Wirbelsäulengymnastik, Step Aerobic, Yoga, Jazzdance. Und sie erzählen dabei, welche Bedeutungen für sie, die Anwohner von Stammheim, das Gefängnis hat: ein Muss im Besichtigungsprogramm, wenn Besuch kommt. Ein unheimlicher Ort für ein Praktikum als Zahnarzt. Ein Anlass für blöde Witze, wann immer man seine Herkunft erwähnt. Ein Ort, der untrennbar mit der Geschichte der linken Sozialisation in den Siebzigerjahren verbunden war und die Macht des Staates repräsentierte - auch das wird erzählt, unprätentiös und genau, wenn auch nur als eine von vielen biografischen Linien, die sich im TV Stammheim begegnen.
Nichts ist so undramatisch auf der Bühne anzuschauen wie eine Gruppe älterer Damen beim Yoga. Und nichts ist jemals so dramatisch in den Alltag dieses Theaters eingebrochen wie die Zahnspendenaffäre, die im Mittelpunkt der "Peymannbeschimpfung. Ein Training" steht. Denn hinter den ganzen Bewegungen der Körper liest auf einer Leinwand Claus Peymann Hassbriefe, die er als Schauspieldirektor hier erhielt, vor genau dreißig Jahren. Anlass war seine Unterstützung eines Spendenaufrufs, mit dem die Mutter von Gudrun Ensslin Geld einzusammeln versuchte für eine Zahnbehandlung für die Inhaftierten der RAF in Stammheim. "Mephisto möge ihr Wegbegleiter bleiben und Sie dorthin bringen, wohin Sie schon längst gehören: in die Hölle" und "Ihnen gehört die Mistgabel auf den Kopf gearscht, dass die Socken platzen", liest Peymann vor.
So verrückt ist die Sprache der Briefe, so ausgesucht sind die Beschimpfungen, dass sie ständig auf den Wahnsinn der Schreibenden zurückzuweisen scheinen. Claus Peymann kann sie denn auch heute mit einem gewissen Genuss an dieser Feindschaft lesen, die ihm nicht zuletzt den Ruf des politisch aufrührerischen Theatermachers eintrug. Aus einem abseitigen, von Fanatismus und Rachefantasien geprägten Raum, voller Pedanterie und Lust an grausamen Details kam dieses Sprechen. Eine konservative Empörung, die sich in Gewaltvorstellungen niederschlug. Die Briefe waren aber nur die Begleiterscheinung eines politischen Drucks und letztlich der Ausdruck einer alles Linke verteufelnden Panikmache, der Peymann schließlich von Stuttgart nach Bochum ziehen ließ.
Es ist eine schöne theaterhistorische Pointe dieses Stücks, dass Claus Peymann, der dem postdramatischen Theater, wie es die Gruppe Rimini Protokoll pflegt, sehr misstrauisch gegenübersteht und Ausdruck politischer Kritik allein in seinem Theater, dem BE in Berlin, beheimatet sieht, hier nun ausgerechnet hinter der größten Gruppe von Alltagsspezialisten auftaucht, die Rimini Protokoll bisher auf die Bühne brachte. Und man sieht deutlich, dass das Schauspiel Stuttgart sich eben auch auf den Spuren der eigenen Geschichte bewegt, wenn es mit den Projektwochen "Endstation Stammheim" nach den Erinnerungen dieser Stadt an die Zeit der RAF und der Terroristenverfolgung fragt. Die Ära Peymann in Stuttgart ist legendär, hier schien das Theater ein Türöffner für die Suche nach einem anderen Leben, hier war der Raum für die Wahrnehmung der Kunst politisch aufgeladen. Ist der Blick zurück am Schauspielhaus also auch ein sehnsuchtsvoller Versuch, dem Theater wieder eine lautere Stimme im politischen Raum zu geben?
Jörg Bochow, Chefdramaturg in Stuttgart, sieht das anders. Für ihn steht die Suche nach Entmythisierung im Umgang mit den Legenden der RAF im Vordergrund. Dafür werden Erinnerungen wieder befragt, Texte und Dokumente wieder gelesen und nach Narrationsformen gesucht, die sich von den bekannten Erzählungen entfernen und vor allem die Konstruktionen der Medien hinterfragen. Man habe den Blick nicht wieder auf Opfer und Täter verengen wollen, sagt Jörg Bochow, sondern ausweiten wollen auf das politische Umfeld der Zeit, das jetzt so oft verdrängt wird.
Ein schöner Plan, aber dann stehen in den ersten vier Premieren doch gleich zweimal wieder Opfer und Täter auf der Bühne. Zum Beispiel in "Mogadischu Fensterplatz", einem Stück nach einem Roman von F. C. Delius, das von der Flugzeugentführung der "Landshut" aus der Perspektive der Passagiere erzählt. Sie durchleben im Rückblick noch einmal diese Zeit, die Enge, die Todesangst, der Druck in den Gedärmen, den Berührungsekel; sie durchleben das jetzt aber mit dem nachträglichen Wissen, dass dafür auch die Staatsmacht, die Regierung von Helmut Schmidt, verantwortlich war, die mit ihrem Leben gepokert hat.
Das ist in der Regie von Regina Wenig zwar ein spannendes und informatives Stück Theater geworden. Über den klaustrophobischen Schauplatz, die Gefangenschaft im Flugzeug, aber kommt es nicht hinaus und bleibt ein Kammerspiel. Zwar versucht die Inszenierung, mit den Figuren eines Regierungsvertreters und einer Terroristin, die fast geschlossenen Denksysteme, die da so unverbrüchlich aufeinanderkrachten, in das Stück hineinzuspiegeln - allein das bleibt sehr klischeehaft. Trotzdem berührt "Mogadischu Fensterplatz" auch deshalb seltsam, weil ihm die aktuelle Debatte über die Legitimation für den Abschuss eines von Terroristen gekaperten Flugzeugs natürlich eine Steilvorlage liefert. Nichts von dem, was auf der Bühne so absurd erscheint, ist absurd genug, als dass es nicht von den realen Diskussionen in der Sicherheitspolitik noch einmal übertroffen werden könnte.
Auch in dem Stück "Umschluss" von Christian Hockenbrinck, das zu den sieben Premieren der ersten Projektwoche gehörte, schrumpft der Raum. Es ist mitten in der JVA Stammheim angesiedelt und mit den Stimmen von "Andreas", "Gudrun", "Ulrike", "Holger" und "Jan" besetzt. Der Text ist einerseits eine dokumentarische Collage und setzt sich zusammen aus Büchern, von denen man weiß, dass sie von den Gefangenen zusammen gelesen und als Material ideologischer Aufrüstung diskutiert wurden, Brecht, ein Guerilla-Leitfaden, Lenin, Mao. Andererseits werden Zitate der berüchtigten Tonbandprotokolle eingesetzt. Und so, wie sie sich in der ideologischen Auseinandersetzung selbst fertigmachen, Unterwerfung, Selbstbezichtigung, Selbstauslöschung besonders von "Ulrike" verlangen, denkt man, sind sie selbst ihre schlimmsten Peiniger.
Sprache wird da zu einem Mittel der Gewalt, der Selbstberauschung und der Selbstermächtigung. Es ist fies und bedrückend, mit anzusehen, wie die Suche nach Instrumenten der Befreiung in den Wiederholungszwang von autoritären Strukturen kippt. Was sie aber dahin gebracht hat, sich so mit der Waffe der Rhetorik zu zerfleischen, das sieht man nicht.
Einer, der in allen seinen Stücken die Frage nach der Repräsentation als eine Frage der Macht thematisiert, ist in Stuttgart auch dabei: René Pollesch. Und obwohl sein Stück "Liebe ist kälter als das Kapital", mit jungen Schauspielern aus Stuttgart erarbeitet, wörtlich nur wenige Bezugspunkte zu den Siebzigerjahren anbietet, ist seine Theatersprache doch am stärksten geprägt vom Zweifel an jeder Konvention und dem Sinn von Regeln, die immer auch hierarchische Strukturen spiegeln. Nicht zuletzt torpediert er das unter Künstlern beliebte Selbstverständnis, dass Kunst per se irgendwie widerständig sei.
"Man kann überhaupt nicht mehr Nein sagen." Das ist in Polleschs neuer Inszenierung die Klage einer Schauspielerin, um die alles kreist. Sie torkelt, nicht nur ob des Alkohols, sondern vor allem verunsichert ob der schwindenden Realität, zwischen einer Szene auf der Vorderbühne und Dreharbeiten auf der Hinterbühne unablässig hin und her. "Liebling! Was ist denn mit der Realität passiert? Die war doch immer hier hinten", klagt die Schauspielerin, die eine Schauspielerin spielt, die eigentlich die Bühne verlassen will und dabei stets mitten in ein Filmset von "RAF der Wüstenfuchs" hineinplatzt. "Aber vielleicht ist nur eine zusammengebrochene Realität real. Vielleicht brauchen wir wieder Besuch vom Schah, um den Polizeistaat zu sehen, der sich hier so offensichtlich gegen seine Staatsbürger richtet", antwortet ihre Kollegin.
Dass Realitätserfahrung nur über Action zu haben sei, ist einer der Mythen, die Pollesch unablässig unterläuft und dabei seine Protagonisten durch Loops von Wiederholungszwängen jagt, die von Anfang an viel Irrwitz und Slapstick aufweisen. In seinem Stück kommt auch einmal der Satz vor: "Im Theater ist die Moderne noch nicht angekommen." Im Kunstmuseum Stuttgart, in der Ausstellung von Josephine Meckseper, dagegen schon. Sie hat jene kühlen, glamourösen Ladys gestylt, für die ein RAF-Logo auf der Streichholzschachtel zur Aufladung ihrer Aura dazugehört. Mit einer Videoinstallation nimmt Josephine Meckseper auch an "Endstation Stammheim" teil: Sie zeigt Bilder zweier Demonstrationen gegen den Irakkrieg, aus Washington und New York, gefilmt mit einer Super-8-Kamera, die nicht zuletzt durch die Ästhetik der Bilder wieder an die Proteste gegen den Vietnamkrieg erinnern. Das rührt nicht nur an die Wurzeln dessen, worauf sich der Widerstand damals bezog, sondern wirft auch gleich die Frage auf, warum er heute, trotz vergleichbarer Konstellationen, fast nur noch auf der Ebene von Symbolen und Zeichen verhandelt wird.
Und das Theater singt den Blues dazu. Denn nicht zuletzt sind die Projektwochen, die im Oktober und November fortgesetzt werden, von der Frage bewegt, wie es denn weitergehen kann mit der Kunst in einer Zeit, die aus jeder Subversion eins, zwei, drei einen Markenartikel macht.