Fruchtbare Lücken

Rimini Protokoll macht im Hau 2 die "Bodenprobe Kasachstan"

Von Doris Meierhenrich

29.04.2011 / Berliner Zeitung

 Wenn er eine Bohrung beginnt, so Gerd Baumann, wird es erst nach zwei Wochen interessant. Dann nämlich, wenn man durch die erdgeschichtliche Millionengrenze stößt. Das Erdöl, nach dem sie bohren, lagert unter der kasachischen Steppe in Schichten, die vor 130 Millionen Jahren entstanden. Baumann steht in Kakikluft im Hau 2 und erklärt jeden Handgriff an einem riesigen Bohrarm, mit dem er täglich in diese Urzeitgegenden vorstößt. Auf einer Leinwand hinter ihm zeigt ein Film die Arbeit. Man könnte meinen, Baumann sei nur einen Schritt weg von der Ölbohrstelle des Filmes auf die Bühne getreten, um das zu berichten.
Ungeheurer als die Zeitsprünge von 130 Millionen Jahren kann auch dieser Realitätssprung nicht sein. So wundert es nicht, dass Baumann bald mit einem dieser Leinwand-Kollegen zu sprechen beginnt. Natürlich ist das dafür verwendete Video so vorproduziert, dass auf jede Bühnenfrage eine Leinwandantwort folgt. Doch ist nicht dieser technische Kniff das Wichtigste, sondern der Effekt, der trotz allem daraus entsteht: ein fantastischer und doch völlig durchschauter Augenblick falscher, dennoch geglückter Kommunikation über alle logischen Grenzen hinweg. Ein Augenblick aus Durchsicht und Dunkelheit, der Nähe und Ferne, Ursache und Wirkung ins Rotieren bringt.
Ein anderer, derart magisch geglückter Sprung geschieht später, wenn die Russlanddeutsche Helene Simkin, eine gewitzte Hobbyastronautin, hinter sich auf die Leinwand schaut, wo der Friedhof ihrer Heimatstadt Dscheskasgan erscheint. Vor 200 Jahren sind ihre Vorfahren aus Schwaben an die Wolga gezogen, dann wurden sie von Stalin nach Kasachstan deportiert, von wo Helene Anfang der Neunziger nach Deutschland emigrierte. Nun schaut sie zurück in die Heimat, wo ihr Bruder zwischen den Familienkreuzen steht. Plötzlich treffen sich beider Augen in einem so traurigen, stumm sich antwortenden Blick, als gäbe es weder Zeit noch Raum noch Leinwand zwischen ihnen.

 

Öl und Biografien
Dies ist einer der ergreifendsten Momente, die Stefan Kaegi und dem Videokünstler Chris Kondek in diesem ungewöhnlich melancholischen Rimini-Theaterabend gelingen. Er zeigt, dass "Bodenprobe Kasachstan" mehr noch als den Wegen des Öls, mit denen es die Lebensadern zwischen Deutschland und Kasachstan nachzuspüren beabsichtigt, den Biografien von fünf Menschen folgt. So wenig die Dinge zwischen diesen Fünf, zwischen ihnen und dem Öl aufgehen, so sehr berührt sich in dem Arrangement aus Erzählungen, Landschaftsprojektionen und Modellen alles auf zarte Weise. So andeutungshaft aber nur, dass das eine das andere allein durch die eigene Geschichte erhellt. Plötzlich hat auch der in Lichtenberg lebende Russlanddeutsche Heinrich Wiebe, der in den Sechzigern in Semipalatinsk das Öl von den Raffinerien zu den Tankstellen fuhr, etwas gemein mit dem kasachischen Ölhändler Nurlan Dussali, den heute wenig mehr als die globalen Handelswege interessieren.
Schicht für Schicht werden die Erzählungen von Menschen-, Natur- und Maschinenkräften aufgeklappt, wie die teerigen Matten des Bühnenbodens. In immer anderen Formationen prallen die Kraftdifferenzen zwischen Mensch, Zeit und Natur aufeinander: Gerd läuft auf dem Trimmrad, doch können seine erlaufenen Kilowattstunden mit denen des Öls nicht mithalten. Seine Vorstellungskraft aber schafft jede Millionengrenze x-mal schneller als jeder Bohrer. "Kontexttransfers" nennt Kaegi selbst dieses Verfahren, das gerade da am fruchtbarsten tätig ist, wo Lücken bleiben. Und trotzdem am Premierenabend noch manch ungeplante Lampenfieberlücke klafft, webt er doch mit großer Könnerschaft an einem schönen Lückenteppich.


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