Von Barbara Villiger Heilig
23.06.2007 / Neue Züricher Zeitung
«Für mich ist das so ein Retro-Abend», verkündet ein junger Schweizer seinen deutschen Bekannten in der Pause; und schon denke ich mit gewissem Respekt, er goutiere all die persönlichen Anekdoten aus den fünfziger Jahren, mit denen wir reichlichst eingedeckt worden sind. Aber dann: «Weil das Bühnenbild hat der Exfreund meiner Exfreundin gemacht.» Damit bringt der Youngster die Sache ziemlich genau auf den Punkt. Rimini Protokoll, das momentan beliebteste Regiekollektiv weit und breit, klebt in seinem Dürrenmatt-Projekt an Privatistischem fest.
Erinnerungsseligkeiten
«Uraufführung: Der Besuch der alten Dame», so der Titel des Unternehmens, erhebt den Anspruch, Umstände und Umfeld des 29. Januar 1956 zu rekonstruieren, als Therese Giehse alias Claire Zachanassian die Bühne des Zürcher Schauspielhauses betrat und damit den Startschuss zum Welterfolg von Friedrich Dürrenmatts Stück gab. Eine reizvolle Idee, welche leider an ihrer Umsetzung scheitert. Oder vielleicht müsste man besser sagen: Sie strandet in sympathischen, aber zumeist langweiligen Nettigkeiten. Lauter Laien treten auf, die - abgesehen von der inspirierten Kindergruppe am Schluss - damals in irgendeiner Form beteiligt waren und nun mit Hingabe in Erinnerungen schwelgen. Aber wen von den Nachgeborenen interessiert dieses nostalgische Making-of?
Der Blick hinter die Kulissen hat zurzeit Konjunktur. Bei ihrer «Alten Dame» verweben Helgard Haug, Stefan Kaegi und Daniel Wetzel, die für das Label Rimini Protokoll stehen, diesen Blick mit dem zeitgeschichtlichen Rahmen. Wenn also Bibi Gessner neben ihre grossformatige Foto von damals tritt, sieht man sie als Direktionssekretärin im schicken Fünfziger-Look telefonieren. Und wenn Eva Metzger mit nachvollziehbarem Stolz erklärt: «Ich war das Gesicht der Schweiz», erscheint unsere erste nationale Fernsehansagerin auf dem altmodischen TV-Apparat in jugendlicher Schönheit. Hans Städeli, Bühnentechniker bei Oskar Wälterlins Uraufführung, erzählt, wieso der Regisseur «Betonierer» hiess, und plaudert auch sonst im Kabarett-Ton aus dem Nähkästchen der Pfauenbühne: Marxistische Diskussionen habe man geführt vor dem Ungarn-Aufstand. Solches bestätigt Kurt Weiss, der mit Gleichgesinnten im Café Select anno dazumal die Faust reckte. Ist das politisches Theater? Nein, nur ein «Who was who» der damaligen Szene.
Richard Merz, Wälterlins Regieassistent und danach Psychoanalytiker, doziert, Erinnerung finde immer im Jetzt statt. Jedoch lässt sich Vergangenheit nicht vergegenwärtigen. Vielmehr und ironischerweise wirkt Dürrenmatts Stück - das bis heute in den Schulen der ganzen Welt gelesen wird: Güllen ist überall - durch das permanent heraufbeschworene Es-war-einmal verbannt in die Nachkriegsjahre. Wobei diese, etwa in Zumikon bei Zürich, ihren ganz normalen Alltagslauf nahmen: Die Geschwister Graf, Kinderchor-Mitglieder bei der Uraufführung, lesen aus Mutters Tagebuch vor, wie kalt jener Januar war, oder auch, dass «Urseli» neue Kleider bekam. Darüber freute sich Urseli garantiert. Aber wir?
Phantombild
Im Unterschied zu anderen Rimini-Protokoll-Projekten, die Themen aus den verschiedensten Bereichen aufmixten und geschickt miteinander verlinkten (immer allerdings mit einem Touch von halbakademischer Seminarveranstaltung), dekliniert diese «Alte Dame» bloss stückrelevante Stichwörter durch, manchmal pointiert, öfter bieder bis banal. Dürrenmatts «tragische Komödie» über die Rache der steinreichen Mehrfachwitwe Zachanassian an ihrem einstigen Liebhaber Alfred Ill, der sie als mittelloses Mädchen schwängerte und sitzenliess, wird nacherzählt und anhand von Pappkartons dekorativ nachgestellt (Ensemblebilder mit u. a. Therese Giehse und Gustav Knuth). Dazu assoziieren die Performer, was sie so wissen über den Schweizer Wirtschaftsboom nach dem Krieg, die Jagd, das Autodesign, die Bodenpreise, den Existenzialismus, die Liebe. Speziell überraschend, besonders lehrreich ist im Zeitalter von Google nichts davon - und im Hinblick auf das grossartige Drama und seinen berühmten Autor sind diese Fussnoten, ob informativ, rührend oder peinlich, allesamt unadäquat, passend für Schulbänke, Stammtische und Familienfeste, im Theater aber völlig fehl am Platz. - Ein witziges Highlight immerhin bringen die Kinder schliesslich auf die Bühne, wenn sie, geschminkt und kostümiert als Güllener Honoratioren, mit hochkomischer Verve rhetorische Phrasen dreschen, um den Mord an Ill im Namen sozialer Gerechtigkeit - ein Milliarden-Check winkt - zu rechtfertigen. Bravo für die kindertheatralische Glanzleistung! Doch auch sie bleibt dem Rimini-Protokoll-Projekt treu. Seine Phantombild-Aufführung prunkt mit einem dramatischen Höhepunkt im Kindergartenstil.