Es schaut mich an wie ein Mensch

Von Heidemarie Klabacher

13.08.2023 / Drehpunkt Kultur

Der Kreis wird zur Spirale. Im Zentrum steht nicht die Entscheidung des Richters. Gefragt wird das Kind. Wer soll deine Mutter sein? Die Spirale wird zum Loop. Sogar die liebend fürsorgliche (nicht die biologische) Mutter muss sich fragen lassen: Hättest du das Kind auch genommen, wenn es krank gewesen wäre? Vielleicht ein Downsyndrom gehabt hätte...
Die Barbie-Puppe mit Downsyndrom ist „dem Kind“ – und auch den anderen, die jederzeit gekonnt aus der Rolle fallen können – jedenfalls zu billig. Die gibt’s auch mit Prothese. Oder mit Rollstuhl. Oder eben mit Trisomie21. Entschieden stopft „das Kind“ die Barbie in ihre Plastikschachtel zurück. Bestechungs-Versuch der leiblichen Mutter misslungen. Die Fürstin war, unter Zurücklassung des Kindes, vor der Revolution geflohen. Jetzt fordert sie dieses zurück, um ans Geld zu kommen. Das Vermögen hängt am Erben...
Nach und nach, da und dort, kommt die Geschichte heraus. Im Zentrum der Produktion Der kaukasische Kreidekreis bleibt jedoch die Gerichtsszene als Dauer-Loop. Sogar die Musikerin (der Sänger bei Brecht) und der Richter selber werden als „Mutter“ erwogen, gewogen und für zu leicht befunden. Wer kriegt das Kind nun zugesprochen: Die reiche Frau, die „es“ – Und damit meint er das Kind, ruft das Kind dazwischen – geboren und verlassen hat. Also die Fürstin. Oder die arme Frau, die das verlassene Kind gefunden, mit Liebe aufgezogen und, selber auf der Flucht, beschützt hat. Also die Magd Grusche.
Im November 2022 traf das Regieteam zum ersten Mal die Mitglieder des Theater Hora in Zürich, berichtet das Produktionstagebuch. „Remo lässt sich kurz den Inhalt von Der kaukasische Kreidekreis erzählen. Auf die Frage, ob er denke, dass der Richter gut gehandelt habe, sagt er: Ich würde das Kind fragen.“ Und genau das tut die, auf die wieder und wieder durchgespielte Gerichtsszene konzentrierte, Festspielfassung.
Die Mitglieder des Theater Hora, Remo Beuggert,Robin Gilly, Simone Gisler, Tiziana Pagliaro und Simon Stuber, haben alle eine „kognitive“ oder „intellekturelle“ Beeinträchtigung. Über das Wording wurde disktuiert, ihm gilt ein eigener Programmhefttext.
Auf den Punkt bringt es Robin Gilly in dem Fotobuch, das in einer Szene an alle Leute im Publikum verteilt wird: „Was macht mich speziell? Dass ich ein Downsyndrom bin. Mich stört das eigentlich nicht. Ich bin es halt. Ich beachte es nicht.“

Unter dieser Prämisse beachten wir es auch nicht und berichten von einem poetischen, im Tempo an den noch viel, viel „langsameren“ Nathan auf der Pernerinsel erinnernden Theaterabend in der Szene Salzburg. Wir berichten von einer Hightech-Bühne, die sich grandios zurückhält. Von zwei Putz-Robotern, die während des Einlasses in präzisen Bahnen die Kreide-Kreise auf der Bühne weggewischt haben, mit Spielbeginn aber in ihre Docking-Stationen gefahren und dort geblieben sind. Zu erzählen ist von raffinierten Video-, Licht- und Kinetik-Projektionen und einem Schauspieler, Simon Stuber, der per Projektion zugespielt wird und mit seiner Ruhe und Präsenz bewegt.

Zu erzählten ist von der Bühnenmusik (der originalen Bühnenmusik von Paul Dessau, gefasst für eine Perkussionistin), die vielleicht auch mal hätte aussetzen können, aber in der Lautstärke wohl dosiert war. Einigen Mitwirkenden war nämlich während der Proben die Marimba zu laut, das habe man „geregelt“. Publikum dankt. Wunderbar, wie selbstverständlich Remo Beuggert und Robin Gilly als Partner der Bühnemusikerin
Minhye Ko zwischendurch nur mal so zu Kontrabass und Marima-Schlägeln greifen. Das Marimba-Quartett des Theater Hora gehört eigens erwähnt. Es war viel Szene und Inszenierung, aber grad' nicht so viel, um die Protagonisten zuzudecken. Ein wenig mehr Raum ohne nix hätten sie mit ihrer Präsenz auch gefüllt.

Der große Auftritt von Tiziana Pagliaro als Fürstin. Wie die wunderbare Simone Gisler als Grusche eine Nacht lang das Kind anschaut, um nie wieder wegzuschauen. Dazu ihre romantische Hochzeitsfantasie, die im Finale der legendären Kaffeehaus-Orgasmus- Demonstration von Meg Ryan in Harry und Sally nur wenig nachsteht.
Der souveräne Remo Beuggert. Er hat gleich zu Beginn der Probenarbeit klargestellt, dass er niemanden herumtragen wolle, nur weil er so stark ausschaue. Als Richter und Spielleiter leister er somit eine Art Regie-Assistenz auf offener Bühne.
Robin Gilly als „Kind“ vom Säugling bis zum – vielleicht schon – Jugendlichen: Jeder Moment, den diese Truppe gestaltet hat, war bewegend. War viel mehr. War ein Stich in vielleicht noch immer nicht überkommen Vorstellungen, Erwartungen und Klischees. Theater als Lebensschule. Toll.


Projekte

Der kaukasische Kreidekreis