Von Doris Meierhenrich
03.07.2017 / Berliner Zeitung online
„Was am Ende bleibt, sind die Bilder“, sagt Jeanne Bellengi, während wir zu viert um einen kleinen Küchentisch sitzen und ihrer eingespielten Stimme lauschen. Dutzende privater Fotos liegen dort, Fotos von Jeannes Familie, ihren Freunden, von Reisen, beim Feiern, im Alltag.
Und wir blicken auf all diese Bilder aus den 60er, 70er, 80er Jahren, nehmen sie in die Hand, wühlen und denken, wie sehr doch diese Fotos denen in unserem Album zu Hause gleichen − sogar die Menschen darauf. Sie sind weit weg, fremd und lassen doch etwas Vertrautes aufblitzen: irgendein Punkt darin − ein Kleidungsstück, eine Frisur, eine Haltung, ein Möbelstück − schlägt Brücken von dem fernen Moment ihrer Entstehung ins Hier und Heute, von einer fremden Person zur eigenen Erinnerung.
Vergangenheitsblitze
Während man so denkt, erzählt die freundliche Stimme der betagten Jeanne von ihrem Leben und davon, was sie nach ihrem Tod gern zurück lassen würde. Und dabei spielen all diese Fotos, diese so ambivalenten Zeugnisse der Erinnerung, eine besondere Rolle.
Jeanne weiß sehr genau, dass sie uns, der zufälligen Zuschauerschar hier am Tisch der kleinen Küchenkulisse im Martin-Gropius-Bau, wenig sagen. Und doch scheint sie zu ahnen, dass diese stummen Statthalter ihrer persönlichen Geschichte wie Vergangenheitsblitze auch in unsere Leben einschlagen können.
Entspannte Körper
„Fotos“, sagt sie, „sind wie Körper von Toten“. Man habe immer erst Angst davor, aber am Ende seinen sie durchweg schön, denn tote Körper strahlten eine besondere Entspanntheit aus. Zum Zeitpunkt dieser Tonaufnahme lebt Jeanne im Altersheim. Man gebe ihr nur noch kurze Zeit, sagt sie, doch hoffe sie, noch zu leben, wenn wir dies hören.
Das war 2015, ein Jahr später ist Jeanne tot. Doch wie diese einfache Frau, die ihr Leben lang in einer Uhrenfabrik arbeitete, ihren Sohn längst beerdigt hat, ihre Tochter offenbar im Kindesalter weggab, darüber spricht, wie sie gelernt hat, das Unrecht des Lebens und die Qual des Sterbens nicht zu fürchten, öffnet einem Kopf und Herz.
Prophylaktisches Erinnern
Wir befinden uns in der Installation „Nachlass“, die Stefan Kaegi von Rimini Protokoll zusammen mit dem Bühnenbildner Dominic Huber vor einem Jahr in Lausanne als „Stück ohne Menschen“ heraus brachte und nichts weniger versucht, als das Leben von Menschen jenseits ihres Todes auf die Bühne zu bringen. „Nachlass“ will dem vom Tod beförderten Auseinanderdriften von Leben und Körpern, Dingen und Bedeutungen eine Art individueller Fixierung entgegen setzten. Man könnte auch sagen, die Abwesenheit verstorbener Menschen in Anwesenheit zurück verwandeln, indem man den Sterbenden noch zu Lebzeiten ihre Erinnerungsräume der Zukunft bauen lässt.
Dominic Huber übernahm es, vom Neuro-Labor bis zum Kindheitstheater acht kleine Räume zu bauen, die den Erzählungen der acht „Nachlass“-Kandidaten folgen, die Kaegi zuvor in Altersheimen und Krankenhäusern fand. Dass man diese Räume nun nicht einfach als Stellvertreter „lesen“ kann, geschweige denn durch ihr Betreten widerstandslos in die Lebenswelt ihrer Initiatoren „eintaucht“, zeigt schon Jeannes „Küche“, die nur engen Kontrapunkt bildet zu ihren offenen Gedanken.
Folter in Reineckendorf
Weil „Immersion“ (Eintauchen) als kunstästhetisches Forschungsthema selbst ein hoch ambivalenter Begriff ist, der die Spannung zwischen Teilhabe und Distanz des Betrachters an Kunst und Leben neu vermisst, passt es gut, dass „Nachlass“ nun die Programmreihe der Berliner Festspiele zum Thema eröffnet. Am Donnerstag folgt die Premiere im „Reinickendorfer Nationaltheater“, in dem der Totalkunstwerker Vegard Vinge unsere Souveränität noch ein bisschen radikaler auf die Folter spannen wird.
Künstlerisch detailreich und genau durchdacht, lässt die sehr menschliche „Nachlass“-Performance einen inhaltlich allerdings enttäuscht zurück. Was daran liegt, dass die acht Nachlass-Spender vor allem an der Schönheitschirurgie ihres Lebens und Sterbens arbeiten. Ist der Gedanke an Ordnung und Macht über das Leben wirklich unser letztes Glück?