Eine Welt geht unter

Kann man die Klima-Katastrophe auf der Bühne darstellen? In Hamburg und Stuttgart wird es versucht. Eine Theaterreise.

Von Peter Kümmel

27.11.2014 / Zeit online

www.zeit.de

Was hier entschieden wird, ist unsere Zukunft. Worüber hier gerichtet wird, ist unsere Gegenwart. Wofür wir hier bezahlen, ist unsere Vergangenheit. Gespielt wird Welt-Klimakonferenz , ein Stück des Dokumentartheaterensembles Rimini Protokoll. Es geht ums Allergrößte: um das Wetter in 15 und 150 Jahren, um die Frage, ob es den Menschen gelingen kann, die globale Erwärmung zu stoppen. Und das Allergrößte wird meist dann fasslich, wenn man es als Kinderspiel inszeniert. Also spielen wir: Klima-Konferenz.
Ehe man den Saal des Hamburger Schauspielhauses betritt, erhält man einen Briefumschlag mit Informationsmaterial. Darin steht, welche Nation man vertreten soll und welche ökonomischen und ökologischen Bedingungen sie hat. Rhetorikkurse funktionieren ähnlich: Ein Ahnungsloser erhält die Aufgabe, sich in einen Delegierten Nordkoreas zu verwandeln, der eine Rede vor den Vereinten Nationen hält. Oder man muss einen Anwalt spielen, der ein Plädoyer für seinen Mandanten Bernie Ecclestone hält. Rede wie ein anderer, und du wirst ein anderer: Dieser Verwandlungszauber wirkt auch hier. Die Welt-Klimakonferenz ist ein Ball der Nationen, ein großes Rollenspiel, in dem jeder Zuschauer das Land verkörpert, das ihm zugelost worden ist: Der "Nordamerikaner" hat die sinistre Autorität des Klimasünders, der "Ecuadorianer" krümmt sich vor Bedeutungslosigkeit. Und warum das alles? Das Theater von Rimini Protokoll wirkt wie ein großes Schaubild, eine Panorama-Ansicht der Welt: Wir sollen lernen, wie alles zusammenhängt. Welche Machtspiele werden vollzogen, welche Seilschaften werden geknüpft – und was steht bei alldem auf dem Spiel?
Flaggen auf den Rückenlehnen der Sitze zeigen an, welche Delegation wo sitzt. Auf der Bühne haben sich Experten niedergelassen: bedeutende Meteorologen, Ozeanologen, Biologen, Chemiker, Ökonomen, Klimaforscher und so weiter. Alles hier ist von langer Hand vorbereitet, und ein Streifen büscheligen Grases, der aus einer Fuge des Podiumstischs sprießt, symbolisiert die rührende Detailliebe dieser Veranstaltung. Auf Bildschirmen rechts und links vom Podium sieht man das, von dem wir am allerwenigsten haben, die vertickende Zeit.
"Wir sind heute maximal 640 Leute; auf wirklichen Klimakonferenzen sind manchmal 20.000 Menschen", sagt der unbeirrbar sachliche Moderator, ein Physiker und Klimaforscher namens Florian Rauser, der uns aus Zeitmangel darum bittet, möglichst wenig zu klatschen. Im Verlauf des Abends wird nun versucht, das betörende Gewimmel herzustellen, das eine echte Konferenz vor sich hertreibt: Diskussionen mit (tatsächlichen) Experten, Hinterzimmertreffen, bilaterale Verhandlungen, Bus-Exkursionen ins umgebende Gelände, Strategiebesprechungen zwischen Tür und Angel – all das findet parallel und in kleinen Gruppen statt. Zur Ruhe kommt man zwischendurch auf einer Liege, allerdings nur, um auf ihr von einer Scheinwerferbatterie bestrahlt zu werden, deren Hitze uns in die Glut einer Wüstenmetropole zur Mittagszeit versetzt.

Die Rimini-Produktion hält eine elegante Balance aus Didaktik und Selbstironie. Das Ganze ist eine Simulation, sie dauert drei Stunden, aber man wäre gern noch länger dabei, und das Künstliche der Sache hat nicht gestört: man ahnt, dass dieses Als-ob einer wahren Klima-Konferenz ziemlich nahekommt. Denn wer übers Klima entscheiden will, ist in hohem Maß ein Simulant von Autorität, ein Akteur im Ungewissen, immer am falschen Ort und immer zu spät – ein Slapstick-Artist im Kampf gegen höhere Mächte.
Ein Zeitsprung führt uns zurück zu den Anfängen der Vergiftung
Der deutsche Klimaforscher Mojib Latif, ein Star der Branche, spricht an diesem Abend in Hamburg vom großen Problem des Klimaschutzes, nämlich von der zeitlichen und räumlichen Entkoppelung von Ursache und Wirkung. Was heute die Atmosphäre zersetzt, wurde schon von der vorvorigen Generation hochgeblasen. "Ihre Eltern und Großeltern haben auch schon CO2 entlassen", sagt Latif und hebt den Blick zum Himmel, "und das ist alles noch dort oben."
Der Rezensent hat Latifs Blick nach oben als einen der eindrucksvollsten Momente dieser Welt-Klimakonferenz in Erinnerung – fast wirkte die Geste wie die Inszenierung eines Zeitsprungs. Als hätte Latif, indem er zum Himmel sah, in die Vergangenheit geschaut, aus der jener Dreck stieg, der noch immer da oben hängt.
Mojib Latifs Blick, so könnte man sagen, führt uns direkt nach Stuttgart. Denn dort, im Württembergischen Staatstheater, wird gezeigt, wie es anfing mit unserem Klimaproblem. Zur Uraufführung in einer szenischen Bearbeitung kommt die erste bedeutende "Umwelterzählung" der deutschen, womöglich sogar der europäischen Literatur: Pfisters Mühle von dem großen Schriftsteller Wilhelm Raabe (1831 bis 1910). In diesem Text, der 130 Jahre alt ist, geht ein Wirt und Müller daran zugrunde, dass der Fluss, an dem seine Mühle liegt, von den Abwässern einer Zuckerfabrik vergiftet wird.
Bei Raabe erscheint Umweltverschmutzung als Symptom einer größeren, unbegriffenen Gewalt: nämlich der Zerstörung aller wesentlichen Zusammenhänge und aller Brücken zur Vergangenheit; als dumm hingenommene Folge der Entwurzelung und Verflachung des Menschenlebens.
In Stuttgart erlebt man nun leider, wie ein Regisseur die Katastrophe, die er analysieren sollte, auf der Bühne selbst ins Werk setzt.
Armin Petras, der Stuttgarter Schauspielchef, inszeniert die Weltgeschichte vom Ende, von der finalen Kloake her. Spielort ist ein unterirdischer Abwasserspeicher, eine Kathedrale der Gülle, in der sich ein paar Übriggebliebene (nicht Überlebende) festgesetzt haben. Dort unten spielen sie nun Raabes Erzählung nach, als wollten sie noch einmal die Idylle feiern, in welcher der Untergang begann. Untote, die Szenen einer gescheiterten Zivilisation aufführen.
Im Hintergrund der Bühne (Martin Eder) dreht sich ein riesiger Lüftungspropeller in der Rundung eines Abwasserrohrs. Jede bessere Boutique im Soho-Industrie-Stil besitzt, eine Nummer kleiner, so einen Lüftungspropeller, meistens dreht er sich direkt über den Regalen mit den Stonewashed Jeans. Aber Petras ist mächtig stolz auf ihn und lässt Scheinwerferlicht durch die Rotorblätter schießen, als säße im Raum dahinter der Leibhaftige an seiner Lichtorgel. Und vorn, am Rand der Bühne, springen mannsgroße Fischkadaver aus dem Fluss. Die Welt ist untergegangen, und Petras sagt: Wir haben es nicht besser verdient. Aber wie stolz er es sagt! Dieser Endspielkitsch, die Zufriedenheit damit, sich künstlerisch "einzuschreiben" in den Schlick der Zivilisation, weil man derjenige ist, der a) es schon immer gewusst hat und der nun b) auch noch das letzte Wort hat – das ist schwer erträglich.
Zudem hat offenbar das Flussgift die Nerven aller Beteiligten zerrüttet, denn dieser theatralischen Unternehmung ist das Aufmerksamkeitsdefizit in jede Faser gefahren. Wenn Petras eine Figur "entwickelt", heißt das nichts anderes, als dass er sich einen Kalauer und eine Macke zu ihr ausdenkt. Kommt ein Anwalt auf die Bühne und stellt sich vor – mit diesem Witz: "Was ist der Unterschied zwischen einem Anwalt und einem Eimer Scheiße? Der Eimer." Wohlgemerkt: In Raabes Erzählung ist dieser Anwalt derjenige, der für den alten Pfister den Prozess gegen die flussvergiftende Fabrik gewinnt.
Aber egal. Es herrscht im Ensemble eine ungeheure Bereitschaft, sich wegzuschmeißen vor Lachen. Und im blöden Übermut das ganze Stück gleich hinterherzuschmeißen. Dabei ist die Erzählung Pfisters Mühle ein großartiges Dokument aus jener Zeit, als Ursache und Wirkung der Umweltverschmutzung noch relativ nahe beieinander lagen. Raabe zeigt, wie sie soeben damit beginnen auseinanderzuklaffen.

Doktor Asche aus "Pfisters Mühle" ist eine Schlüsselfigur der Moderne
Es gibt in Pfisters Mühle eine Gestalt, die diese Spaltung verkörpert, einen Mann namens A. A. Asche. Asche ist eine weithin übersehene Schlüsselfigur der Moderne – ein Geisteswissenschaftler, der die Ursachen der Umweltkatastrophe ermittelt, dann aber Chemiker und Unternehmer wird und fortan damit Profit macht, dass er selbst die Flüsse vergiftet, deren Vergiftung er zuvor noch grimmig analysiert hatte. In Stuttgart ist dieser Herr Asche eine zapplige Spottfigur, die deshalb so zuckt, weil der Fluss, an dem sie wohnt, von einer Zucker-Fabrik (höhö) verseucht wird. Dem Zucker, sagt Herr Asche, gehört die Zuck-unft. Asches Königskalauer lautet: "Warum ist der Eisbergsalat in den letzten Jahren immer kleiner geworden? Es liegt am Klimawandel."
So hirnrissig ist selten eine Gestalt der erzählenden Literatur szenisch erledigt worden. Petras führt den Mann als Irren vor, anstatt ihn plausibel zu inszenieren – als einen Vorläufer von uns allen.
Wilhelm Raabe betreibt in seiner Erzählung rund um Herrn Asche und Herrn Pfister ein großes literarisches Projekt: Er schildert, wie die Gesellschaft sich mit der Industrialisierung und der Zerstörung der Natur abfindet (die Flüsse sind ja trotzdem noch belebt von allerlei Schiffen und Booten), indem sie die Vorwelt einfach vergisst; es geht ja alles weiter. Man muss nur "Bilder" von der Vergangenheit finden, die man verklären – und die man ablegen kann. Der Icherzähler von Pfisters Mühle ist der Sohn des alten Müllers, er hat sich schon angepasst an die neuen Zeiten. Er kann mit ihnen leben. Er erzählt die Vorgänge in einem Tonfall der vergnügten Schwermut: Da geht halt eine alte Welt unter, aber die neue ist komfortabler. Sein Vater erträgt die Vergiftung des Flusses aber nicht. Er geht an ihr zugrunde. Dass sein Anwalt einen Sieg gegen die frevlerische Zuckerfabrik erwirkt, kommt für ihn zu spät: "Das hätte früher kommen müssen – an jenem Tage schon, an welchem er sich zum erstenmal fragte, wo eigentlich sein klarer Bach – der lustige, rauschende, fröhliche Nahrungsquell seiner Väter seit Jahrhunderten – geblieben sei und wer ihm so die Fische töte und die Gäste verjage. Zu lange hat zuerst der alte Mann das widerwärtige Rätsel selber sich lösen wollen."
Man sieht: Der Verlust der zeitlichen Tiefe ist die eigentliche Katastrophe, die hier beklagt wird. Der klare Bach ist vergiftet, und damit ist Vater Pfisters "fröhlicher Nahrungsquell", die Verbindung zu den Vätern, zerstört. Was die Söhne aber nicht schmerzt. Weil sie es kaum merken. Und in der Stuttgarter Theaterversion ist von zeitlicher Tiefe, von Vorwelt eh kein Hauch mehr zu spüren: Für Zombies ist jeder Moment der einzige und letzte.
Der Regisseur Armin Petras, der an diesem Abend angetreten ist, den Menschen als zwanghaften Zerstörer zu verhöhnen, als ein Wesen, dem seine von Gier beschränkte Intelligenz keine andere Wahl lässt, erweist sich hier selbst als eine Art höherer Umweltsünder, indem er nämlich für einen geringen Ertrag, ein paar Kalauer und die Genugtuung, das letzte Wort zu haben über einen Größeren, die Wurzeln kappt, an denen er hängt, und die Quellen vergiftet, aus denen er schöpft. Der Mann macht nicht Kunst zum Thema Umweltverschmutzung. Sondern er praktiziert, was er zu analysieren glaubt.
Zum Glück kann man eine literarische Quelle nicht zerstören, indem man sie bearbeitet. Also: Man lese Pfisters Mühle. Man sieht bei Raabe, wie etwas Exemplarisches sich anbahnt: Wie die Lizenz zur "Erzählung der Welt" den Geisteswissenschaftlern allmählich entzogen und den Naturwissenschaftlern zuteil wird. An einer einzigen Gestalt, dem Mann mit dem telling name, Herrn A. A. Asche, zeigt Raabe, wohin sich die Macht verlagert. Man sieht die Folgen auch heute, im Theater. Das wesentliche Stück über die Zukunft der Welt spielt in Hamburg. Auf der Bühne: lauter Naturwissenschaftler. Wo ist der Theaterautor, der eine Gegenerzählung wagt?


Projekte

Welt-Klimakonferenz