Von Janis El-Bira
17.12.2021 / https://nachtkritik.de/
Im Jahr 2014 verschwindet das Flugzeug MH370 über dem Ozean. Zeitgleich zeigen sich erste Anzeichen von Demenz beim Vater der Regisseurin Helgard Haug (Rimini Protokoll). Mit "All right. Good night." erzählt sie am Berliner HAU beide Geschichten zusammen. Und schenkt ihrem Publikum einen der schönsten, traurigsten Texte des Jahres.
Von Janis El-Bira
Dass des Menschen Sinn tief wie ein Abgrund und seine Seele weit wie ein Meer sein müssten, um alles zwischen Himmel und Erde zu fassen, das weiß schon das klassische Weihnachtslied. Weihnachtlich geht es zwar überhaupt nicht zu an diesem Abend am HAU, aber vom Sinn und seinem Abgrund, von der Weite und vom Meer ist trotzdem die Rede. Ein "Stück über Verschwinden und Verlust" hat Helgard Haug von Rimini Protokoll angekündigt, und wie Paul Gerhardt im Kirchenlied misst auch sie das kleine Menschendasein an den ganz großen, oft genug merkwürdigen Dingen da draußen. Gefunden hat sie ein solches im Malaysia Airlines-Flug MH370.
Dessen Schicksal steht für das wohl größte Rätsel der jüngeren Luftfahrtgeschichte. Ein Passagierflugzeug mit 239 Menschen an Bord auf dem Weg von Kuala Lumpur nach Peking, das in der Nacht des 8. März 2014 spurlos von den Radaren verschwand, um schließlich – so die gängigste Theorie – nach Stunden weit abseits der geplanten Strecke mit leergeflogenem Treibstofftank in den Indischen Ozean zu stürzen. "All right. Good night" sollen die letzten Funkworte des Piloten gewesen sein, hieß es am Anfang der Untersuchungen. Gefunden wurde das Wrack der Maschine indes nie, was die Legendenbildung bis heute nicht abreißen lässt.
Wie zum Boarding bereit stehen auch die Musiker:innen des Zafraan Ensembles zu Beginn auf der Bühne. Es ist eines der ganz wenigen Motive an diesem Abend, das sich illustrativ bei der Fliegerei bedient. Denn um den Schicksalsflug in seiner Mystery-Dimension geht es eigentlich nicht. Das Verschwinden von MH370 hat vielmehr einen persönlichen Widerhall im Leben der Autorin, korrespondiert mit einem anderen, langsamen Gleitflug hier unten am Boden der Tatsachen. Denn kurz nach dem Abheben und Nicht-wieder-Auftauchen von MH370 werden bei Haugs Vater Anzeichen einer beginnenden Demenz bemerkt. Ein Verschwinden anderer Art beginnt. Ein Auflösungsprozess, der mit vergessenen Pesto-Gläsern im Kühlschrank beginnt und mit einer brennenden Kerze vor der Tür der Demenz-WG endet, die der Vater schon vor seiner Erkrankung im eigenen Haus begründet hatte. Dazwischen liegt eine jahrelange Suche – nach den Resten des Vater-Ichs und den Trümmern von MH370.
Haug hat aus der Parallelität von dem Einen, der noch da ist, aber schon fort scheint, und den Vielen, die fort, aber allgegenwärtig sind, einen Text entworfen, der zu den schönsten und berührendsten, durchaus auch traurigsten dieses Theaterjahres zählen muss. Man wünscht ihm ein Nachleben in vielen Formen, als Buch oder Hörspiel, damit man sich festhalten kann an seinen Bildern, die so beredt gleichzeitig von der Katastrophe am Himmel und im Kopf zu sprechen verstehen: Die Batterien des Funkschreibers, die zu früh abgelaufen waren, die krakelige letzte Vater-Handschrift, "krumm wie Moorstelzen", die "Kontaktpunkte" und "handshakes", mit denen die Familie versucht, dem Dementen einen Weg durch den Alltag zu bahnen. "Du bist hier, vielleicht aber auch fort", heißt es einmal. Dazu rauscht der Ozean via Projektion im Bühnenrücken. Irgendwann fällt ein Wrackteil vom Schnürboden.
Dazwischen ist man mit Lesen und Hören beschäftigt. Als Regisseurin hat Helgard Haug ihr Stück in eine ungewöhnliche Art von Konzerttheater übertragen, das den Wort für Wort auf einen Gaze-Vorhang vor der Bühne projizierten Text mit einem Soundtrack der Komponistin Barbara Morgenstern verbindet. Die fünf Zafraan-Musiker:innen im weit aufgerissenen, tiefdunklen Bühnenraum weben im Lichtschein ihrer Tablets Ambient-Strukturen wie von Brian Eno oder lassen pentatonische Skalen milde jenseitig flackern. Wenn es selten lauter werden soll, vertritt ein Schlagzeug die fluffige Marimba. Einmal setzen sich alle für eine Strandszene zusammen. Vom Band kommen sehr gelegentlich kleinere Textpassagen, häufiger knisternde Funksprüche und Kindergeschrei. Zweieinhalb beinahe wortlosen Stunden formen sich so zu einem fordernden, langen, aber nur manchmal länglichen Lese- und Hörsog, der wie ein Echolot seine Schallimpulse an den Text sendet. Von dort fallen die Antworten mit der Zeit immer schroffer aus. Der Vater, evangelischer Pfarrer und einst engagierter linker Demo-Gänger, rebelliert noch einmal gegen das Siechtum, selbst die letzten Spaziergänge bereiten ihm keine Freude mehr. Erst in der Demenz-WG, seinem Lebensabend-Projekt, fühlt er sich wieder gewürdigt. Wie ihm zur Seite gestellt, erscheint im Text eine Gruppe Angehöriger des Flugs MH370, die seit dem Absturz jeden einzelnen Tag im Büro von Malaysia Airlines anfragt, ob es Neuigkeiten gebe. Vielleicht ist das der zarte Wink ins Politische, der auch noch in diesem Abend zu stecken scheint. Jede Spur zu verfolgen, die zu einer Veränderung der Ist-Verhältnisse führen könnte. Und sei sie nur ein Kondensstreifen.