Von CHRISTIAN BOS
16.01.2008 / Kölner Stadt-Anzeiger
Franz Meersdonk, Günther Willers und ihre Maschinen. 320 PS. Sie fahren Terminfracht in aller Herren Länder. Wer einmal die langlebige deutsche Trucker-Serie „Auf Achse“ gesehen hat, hegt gewisse romantische Vorstellungen vom Fernfahrerleben. Fremde Kulturen, staubige Straßen, unbekannte Gefahren.
An diesem windigen Kölner Abend sind wir die Terminfracht. 47 Theaterbesucher auf der Strecke Sofia-Köln. Unsere Fahrer heißen Ventzislav „Vento“ Borissov und Nedyalko Nedyalkov. Ihre 16 Jahre alte Maschine kann 340 PS nachweisen. „30, 40 davon sind aber schon tot“, bedauert Borissov. Macht nichts. Drei Tonnen Bildungsbürgertum schaffte der olle Volvo-Laster allemal.
„Cargo Sofia-Köln“ heißt die hiesige Station der „bulgarischen Lastkraftwagenfahrt“, die Stefan Kaegi vom Regie-Triumvirat Rimini Protokoll vor gut anderthalb Jahren konzipiert hat. Kurz zuvor war Rimini Protokoll mit Projekten wie „Call Cutta“ - bei dem Mitarbeiter eines indischen Callcenters Theaterbesucher telefonisch durch Berlin leiteten - zum Top-Ideengeber des deutschsprachigen Theaters aufgestiegen. Die Rimini-Projekte bemühen sich, Theater und Arbeitswirklichkeit kurzzuschalten. Dabei ersetzen „Experten aus der Wirklichkeit“ die Schauspieler, dienen Protokolle, Berichte oder gleich der erste Band von Marx' „Das Kapital“ als Textvorlagen.
Für „Cargo Sofia-X“ lässt Kaegi bulgarische Kraftfahrer von ihren Fahrten zwischen Teheran und Amsterdam erzählen. Das Projekt ist schon weit herumgekommen, gastierte von Dublin bis Damaskus. Immer auf Achse. Genau wie das Publikum. Die Pritsche trägt ein fahrbares Parkett, die mobilen Zuschauer blicken auf Leinwände, auf die Fahrt-Szenen von Sofia bis Belgrad sowie Live-Schaltungen aus der Fahrerkabine projiziert werden. Fahren die Leinwände hoch, erlaubt die verglaste Längsseite des Sattelaufliegers die direkte Sicht auf die Realität. Allerdings verfremdet die theatrale Rahmung den Blick nach draußen, verleiht dem arglosen Tankstellenkäufer eine rätselhafte Aura, erhebt den Staplerfahrer zum Heldendarsteller.
Die Kölner Fahrt geht in die industriellen Wüsteneien im Norden der Stadt, der zugleich Bulgarien, Kroatien, Österreich oder die Schweiz doubelt, bevor die übergelagerten Orte an der Endstation Dom wieder in eins fallen. Jörg Karrenbauer inszenierte den Kölner Ableger der großen Tour, eine logistische Meisterleistung. Borissov und Nedyalkov berichten zwei Stunden lang von ihren Speditions-Odysseen. Bulgarischen Schafskäse für Belgien, ukrainisches Toilettenpapier für Serbien. Vom Leben in der Kabine, wo sie fahren, schlafen, mitgebrachte Konserven löffeln. Europas Restaurants sind zu teuer, Hotels sowieso. Prostituierte übrigens auch, merkt Nedyalkov an.
Am Ende der Fahrt wissen wir, wie man Zöllner mit Zigaretten abfertigt und wie viel Liter Diesel man im Iran für einen eingeschmuggelten „Playboy“ erhält. Wir haben Industriehäfen und Gewerbeabfallsortierungsanlagen gesehen, Bagger mit Überdruckkabinen auf dampfenden Müllbergen, erleuchtete Container, die zu Zweipersonenwohnungen umfunktioniert wurden. Wir sind von der Autobahnpolizei aus dem Verkehr gezogen worden, haben uns auf verborgenen Wegen durch die Heimatstadt bewegt, die uns auf einmal schrecklich, verzaubert und unvertraut erscheint. In der Mitte des Kreisverkehrs auf der Neusser Landstraße steht eine Sängerin am Mikrofon, ihr Gesang ist, lange bevor wir sie entdecken, in unseren Lkw übertragen worden, eine wehmütige Geisterstimme in der nächtlichen Umschlagzone, am Rande der bekannten Welt.
„Cargo Sofia-Köln“ ist also ein echtes Theatererlebnis, verbindet quasi-marxistische Aufklärung über Arbeitsbedingungen mit einer magischen Verrückung des Blicks. Doch ganz unproblematisch ist Kaegis Konzept nicht. Die Begegnung der kulturinteressierten Schicht mit der schichtarbeitenden Bevölkerung hinterlässt einen üblen Nachgeschmack. Denn während Helmträger in Sesamstraßenmanier von ihrer Arbeit berichten, flüstern sich die hinter Glas gehaltenen Wirklichkeitsvoyeure zu, wie heilfroh sie sind, studiert zu haben. Man muss Rimini Protokoll zugute halten, dass sie diesen Aspekt ihrer Arbeit klar herausstellen. Doch es bleibt ein Unterschied, ob man die Realität ins Theater holt, oder eine Theaterlustfahrt in die Realität unternimmt.
Eine Laufschrift informiert während der Fahrt über die Geschichte der Spedition Willi Betz. Der Unternehmer hatte im Wendejahr 1989 die bulgarische Staatsspedition „Somat“ übernommen, beschäftigt seitdem vor allem bulgarische Fahrer zu zweifelhaften Konditionen. Was dem Unternehmen die größte Firmenrazzia im Nachkriegsdeutschland und dem geschäftsführenden Sohn eine bis heute andauernde Untersuchungshaft einbrachte.
Erst beim bulgarischen Wodka nach der Tour erfahren wir, dass auch unsere Trucker für Willi Betz fahren - für schmale 35 Euro pro Tag. Wie gut Rimini Protokoll zahlt, wissen wir nicht. Aber kann die Darstellung von Wirklichkeit vollständig sein, wenn sie nicht auch sich selbst zum Thema macht?
Die Vorstellungen vom 17. bis 19. und vom 21. bis 25. 1. sind ausverkauft. Allerdings gibt es jeweils noch wenige Restkarten an der Abendkasse.