Von Jochen Meißner
01.09.2006 / Funkkorrespondenz
Meist geben sie ein klägliches Bild ab, wenn sie als letzten Dienst „Schaden von der Partei und dem Amt“ abwenden wollen, Rechtfertigungen vorbringen oder die Presse beschimpfen. Selten ist es großes Kino („Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort...“), wenn die Gewählten, die sich als Erwählte wähnen, ihren Stuhl räumen. Helgard Haug hat zusammen mit ihrer Schwester Heike, die als parlamentarische Referentin arbeitete, die Muster und Rituale beobachtet, nach denen in der parlamentarischen Demokratie Rücktritte ablaufen. Sie haben dabei eine Vorlage aus vordemokratischen Zeiten mit benutzt, nämlich Shakespeares Königsdrama „Richard II“. Dort hilft es dem Monarchen wenig, dass er für Bolingbroke, den er einst verbannte und der als Heinrich IV. sein Nachfolger werden wird, freiwillig den Thron räumt, denn er wird schließlich auf einen Wink Bolingbrokes doch noch ermordet.
Die Geschwister Haug haben zusammen mit Regisseur Daniel Wetzel eine Hörspielfassung des Shakespeare-Stückes von 1963 (mit Hans Quest und Günther Strack) ausgegraben und verschmolzen diese mit kleinteilig montierten Äußerungen ehemaliger Mandatsträger (Jenninger, Däubler-Gmelin, Möllemann, Özdemir, Seiters, Teufel, Engholm, Jung usw.), und außerdem mit O-Tönen von Journalisten, Soziologen, Medienberatern und Theaterdramaturgen. Trotz aller staatstragender Rhetorik geht es beim Rücktritt letztendlich um die Person selbst, was im Stück durch geloopte „Ich“-Schleifen hörbar gemacht wird. Nur Lothar Späth redet in der entscheidenden Pressekonferenz von sich in der Dritten Person.
Auf WDR 5 lief diese Koproduktion mit dem Deutschlandradio Kultur auf einem Feature-Sendeplatz, während sie beim Deutschlandradio Kultur am 4. September auf dem „Freispiel“-Termin für junges, zeitgenössisches Hörspiel ausgestrahlt wird. Genre-Grenzüberschreitungen sind für die Autorengruppe „Rimini Protokoll“ (Haug, Wetzel, Kaegi; vgl. FK 2/05) Programm, und so spielte ein geschasster Kommunalpolitiker schon in einer ihrer Theaterinszenierungen den Wallenstein. „miles and more“ folgt nicht einer klassischen Feature-Dramaturgie aus These, Argumentation, Beispiel und Beweis, sondern erzählt die Geschichte des Rücktritts aus dem O-Ton-Material heraus. Eine Geschichte, die weniger mit Dramatik als mit Dramaturgie, weniger mit Katharsis als mit der Professionalisierung der Bilderproduktion zu tun hat. Nicht umsonst ist im Programmheft Oskar Lafontaine abgebildet, dessen kleiner Sohn stellvertretend für seinen Vater dessen Gegnern die Zunge herausstreckt.
Nur wenige Politiker sind freiwillig und aus Überzeugung zurückgetreten, wie etwa Sabine Leutheusser-Schnarrenberger. Es dominiert ein geradezu pathologischer Beharrungswille. Wer aber nur um den Erhalt der Macht kämpft, der wird ihr Spielball, was Richard II erst kurz vor seinem Tod erkennt: „Die Zeit verdarb ich, nun verderb’ sie mich, denn ihre Uhr hat sie aus mir gemacht“.
Jochen Meißner / Funkkorrespondenz 1.9.2006