Doku-Theater, Polit-Performance und eine "Peymannbeschimpfung"

Stuttgarter Uraufführungs-Marathon zum Thema "Endstation Stammheim" Wege aus dem Trauma

Von Otto Paul Burkhardt

24.09.2007 / Südwest Presse

Das Stuttgarter Schauspiel blickt zurück aufs Terrorjahr 1977. Was kann Theater da beitragen? Bekannte Bilder, noch mehr Talk-Shows? Nein, das Staatstheater sucht andere Wege, hinterfragt Erinnerungen, zeigt auch heutige Normalität. Erstes Fazit: Ein beachtlicher Saisonstart.


STUTTGART Deutscher Herbst revisited: Die Medien sind voll davon. Bis zur Überdrussgrenze. Jetzt auch noch das Staatstheater? Intendant Hasko Weber, dessen Projekt-Marathon zum Thema "Endstation Stammheim" jetzt begonnen hat, formuliert es bescheiden: Das Theater kann Fragen stellen, die uns auch heute noch beschäftigen.



Doch wenn das Schauspiel RAF-Historie aufgreift, lauern Gefahren zuhauf - von dröger Lehrstunde bis zu aufgebrezelter Nostalgie reichen die Möglichkeiten des Scheiterns. Nur als Infoblock taugt "Mogadischu Fensterplatz" - nach einem Roman von Friedrich Christian Delius. Regisseurin Regina Wenig inszeniert den Text als groteske Talk-Show ehedem Beteiligter, unterbrochen von nacherlebten Szenen der Landshut-Entführung. Man streitet sich telegen - so, wie Zeitgeschichte heute zu quotenbringenden Schau-Debatten verwurstet wird.



Irgendwann legen der Regierungsvertreter und die Ex-RAF-Frau ein Tänzchen aufs Parkett. Am Ende bleibt ein Kind übrig, das in Helmut-Schmidt-Manier eine Zigarette hält, staatstragend von "Schuld und Versäumnis" spricht. Doku-Theater zwischen Erinnerungsworkshop und szenischem Schulfunk. Als Einstieg ins Thema leidlich brauchbar.



Anders René Pollesch, der seinem eigenwilligem Polit-Trash-Theater seit 15 Jahren treu geblieben ist: Er verweigert sich dem Thema Deutscher Herbst, streift es nur nebenbei, auf hintersinnige Weise. Seine nun fünfte Stuttgarter Produktion "Liebe ist kälter als das Kapital" ist wie alle Polleschs: ein Mix aus Kritik-Gebrüll und Spaßperformance. Neu sind stumme Slapsticks in Serie: Fünf Personen kraxeln in tollkühnen Kletterversuchen auf einen Bankautomaten, um ein offenes Fenster zu erreichen - aus dem sie dann alle nach hinten abstürzen. Ein flapsiges Gleichnis auf die von der RAF propagierte Überwindung des Kapitals?



Was folgt, ist typisch Pollesch: Entfremdungs-Diskurs als turbulente Bühnen-Soap. Ab und zu ein lokaler Seitenhieb: "Stuttgart ist nicht kreativ, das liebe ich so an dieser Stadt." Es geht um eine neue Art des Nein-Sagens: gegen das Theater als "Beeindruckungsmaschine", gegen die "Konsensmilch" normierter Lebensformen.



Atompilz aus Pappe



"Heiter!" heißt das Stück-Motto des Autors. Realität, Spiel und Film purzeln munter durcheinander. Hinter der Szene rotiert ein bizarrer "Desperate Luna Park" mit Atompilz aus Pappe. Eine Spur zu lang, dieser neue Pollesch. Aber erneut in der spannenden Zone zwischen Nonsens und Politdebatte.



Mitten im Deutschen Herbst spielt dagegen die "Peymannbeschimpfung", eine Doku-Collage von Helgard Haug und Daniel Wetzel, Mitglieder der gefragten Gruppe "Rimini Protokoll". Es geht um mehrere hundert Schmähbriefe 1977 an den Stuttgarter Schauspieldirektor Claus Peymann, der einen Zahnspendenaufruf von Gudrun Ensslins Mutter theaterintern am "weißen Brett" ausgehängt hatte. Viele legten ihm das als Unterstützung der RAF aus. Wie Peymann heute, nach 30 Jahren, selbst (per Video präsent) aus den Beschimpfungen zitiert ("öffentlich aufhängen", "Feind des deutschen Volkes"), hat geisterhafte Brisanz. Die Wohnorte der Drohbriefschreiber werden per Google Earth im Luftbild herangezoomt - augenzwinkernde Fahndung einmal umgekehrt.



Jazzdance und Google Earth



Menschen aus Stammheim erzählen live auf der Bühne vom Leben im Umfeld der Justizvollzugsanstalt (JVA). Der Clou: Parallel zur "Peymannbeschimpfung" üben Trainingsgruppen des TV Stammheim auf der Schauspielhaus-Bühne Hip-Hop, Jazzdance und Tischtennis. Erinnerungen an die mörderische RAF-Vergangenheit und alltägliche Gegenwart stehen nebeneinander.



Das führt zu skurrilen Gleichzeitigkeiten: Während Peymann per Video Schmähungen von damals verliest ("Pestbeule"), recken Yoga-Schüler von heute die Arme hoch, um "Hilfe bei kosmischen Kräften" zu erbitten, wie die Trainerin sagt. Bewundernswert der Mut der Mitwirkenden, so ungeschützt vor großem Publikum zu agieren. Manchmal ähnelt die Bühne einer Stammheimer Image-Kampagne, einem großen, integrativen Stadtteil-Fest.



Doch der Freizeitsport der Turnvereinler vermittelt - mit Blick zurück auf die RAF-Morde - gleichsam den Trost einer fortbestehenden Normalität. Das Leben geht weiter. Der Zeitsprung zwischen 1977 und heute wird konkret greifbar. Abseits von wohlfeilem Fernseh-Getalke hat das Theater sich mit eigenen, ungewöhnlichen Mitteln dem Thema genähert. Und vielleicht einen der Wege heraus aus dem Trauma Deutscher Herbst gezeigt


Projekte

Peymannbeschimpfung - ein Training