Von Verena Mayer
10.01.2020 / www.tagesspiegel.de
Einer fehlt. Deutsch, männlich, über 75, verheiratet, wohnhaft in Spandau. Den hätte es noch gebraucht, damit die 100 Menschen auf der Bühne ein statistisches Abbild Berlins ergeben. Man fand keinen. Also wurde kurzerhand ein Statist engagiert, ein „Fake-Spandauer“.
Schon einmal, vor knapp zwölf Jahren, versammelten sich 100 Berlinerinnen und Berliner auf der Bühne des HAU in Kreuzberg. Inszeniert wurde das Stück damals wie heute vom Theaterkollektiv Rimini Protokoll. Die Mitglieder verbinden Bühne und öffentlichen Raum, interessieren sich für den Alltag, für das Jetzt, wollen es „ausstellen, verschieben, laut werden lassen“, wie sie selbst sagen.
Ihr Projekt „100% Stadt“ wurde im Februar 2008 in Berlin uraufgeführt und seitdem weltweit in über 35 Städten umgesetzt. Die Idee: 100 Menschen, ausgewählt anhand von fünf Kriterien, stellen auf der Bühne das statistische Bevölkerungsabbild ihrer Stadt dar. Anlässlich des 20-jährigen Bestehens der Theatergruppe gibt es nun eine Neuauflage des Stücks in Berlin: „100% Berlin Reloaded“.
Wieder sind 100 Menschen zusammengekommen, aus allen Bezirken und Altersklassen, mit unterschiedlichem Beziehungsstatus und verschiedenen Nationalitäten. Jeder von ihnen steht für 37.481 Berliner. Zusammen ergeben sie 3.748.148, die – Stand 2018 – in Berlin leben.
Viele der Darsteller waren schon 2008 dabei. Auch Julian, das damalige 100. Prozent, 2008 erst wenige Tage alt, ist erneut Teil des Ensembles. Seine kleine Schwester, vor einigen Monaten geboren, hat seinen alten Part übernommen.
Zu Beginn steht der Statistiker am Mikrofon. Er war dafür verantwortlich, die restlichen 99 Berliner auszuwählen, die sich im Anschluss vorstellen dürfen. Es sind keine professionellen Schauspieler, die da auf der Bühne stehen, sondern Menschen aus dem echten Leben. Für den Mann, der für den Kohleausstieg kämpft und den Mitarbeiter der BSR gibt es spontan Applaus. 2008, als das Stück zum ersten Mal in Berlin aufgeführt wurde, dachte man noch, dass der BER 2011 eröffnen würde.
Der Mietpreis lag bei etwas über fünf Euro pro Quadratmeter und im Roten Rathaus saß Klaus Wowereit. Die Gehsteige waren noch nicht mit E-Scootern zugepflastert, Extinction Rebellion rief nicht zur Verkehrsblockade auf und Wedding hoffte noch brav darauf, zu kommen. In den Jahren, die seitdem vergangen sind, sei Berlin um zehn Prozent gewachsen, sagt der Statistiker. Die Zahl der Menschen mit ausländischem Pass habe sich verdoppelt. Berlin sei jünger, internationaler und „versingelter“ geworden.
Dann beginnt das Frage-Antwort-Spiel, Kern der Performance. Nacheinander treten die Darsteller ans Mikrofon. Einer fragt, die anderen antworten – stellvertretend für die restlichen Einwohner Berlins. Wer schon lange hier lebt, der wird über viel Bekanntes schmunzeln können, für frisch Zugezogene ist die Runde eine Art-Speed-Dating mit dem neuen Zuhause. Man lernt: Irgendwo wird in Berlin immer getanzt, die Stadt hat sich in den letzten Jahren eher negativ entwickelt, und viele haben schon mal antisemitische Übergriffe erlebt.
Doch wie repräsentativ sind die Ergebnisse wirklich? Die Zusammensetzung der Darsteller entspricht zwar der Statistik, die Antworten sind jedoch individuell. Dennoch: Die Fragen sind ein Abbild der Zeit. Europäische Armee? Eher nicht. Verdoppelung der Preise für Inlandsflüge? Bedingungsloses Grundeinkommen? Ja, bitte. Als die Fragen intimer werden, wird das Licht ausgemacht und die Darsteller geben ihre Antworten mittels Lichtzeichen einer Taschenlampen ab.
Wer gibt schon öffentlich gern zu, dass er Steuern hinterzieht? Das Publikum erfährt, dass viele ein behindertes Kind abtreiben würden, dass häusliche Gewalt immer noch erschreckend oft vorkommt und dass drei Leute auf der Bühne die Existenz der AfD befürworten. Und: Viele haben schon mal heimlich E-Scooter zerstört. Natürlich geht es auch um die Mietfrage. Ein ehemaliger Immobilienmakler berichtet, wie er aus dem „Haifischbecken“ ausgestiegen ist. Er macht jetzt Keramik. Das Publikum applaudiert. Gegen Ende muss es dann selbst Fragen beantworten: zu vegetarischer Ernährung und Fernreisen.
Beim Blick in die Reihen hat man den Eindruck, dass die Zuschauer nicht ganz so statistisch repräsentativ für die Stadt stehen, wie es die Menschen auf der Bühne tun. Oder, wie es ein Besucher im Foyer ausdrückt: Man sei hier doch irgendwie Teil einer gewissen „Bubble“. Wie viele Gäste sind wohl aus Marzahn-Hellersdorf gekommen?
Theater ist nach wie vor oft Spielraum einer gewissen Klientel. Muss man nicht auch verstärkt daran arbeiten, den kulturellen Raum offener, zugänglicher zu machen? Das Publikum näher an die statistisch-demografische Realität zu bringen?
Die letzte Frage lautet: Wer glaubt, dass er in zwölf Jahren noch leben wird? Langsam steigt die Zahl auf der Anzeigentafel, bis irgendwann bei 120 auch die letzten beiden Kinder ins Scheinwerferlicht zu den anderen 98 Leuten treten. Dann wird getanzt. Am Ende steht das Jetzt, das Leben.