Von Volker Corsten
04.01.2004 / Welt am Sonntag
Das Regiekollektiv "Rimini Protokoll" (Helgard Haug, Stefan Kaegi und Daniel Wetzel) fiel erstmals auf, als es eine Bundestagsdebatte aus Berlin von Bürgern in Bonn simultan nachspielen ließ. Im neuesten Projekt "Zeugen!" analysieren die drei das deutsche Gerichtswesen.
WELT am SONNTAG: Ist es richtig, dass Sie vor dieser Produktion nie in einem Gerichtssaal waren?
Rimini Protokoll: Als Angeklagte oder Zeugen nie, als Zuschauer schon. Dadurch kam die Faszination für diesen Ort der Alltagstheatralität und der Stellvertretung. Denn wie im Bundestag wird im Namen des Volkes entschieden.
WamS: Waren Sie enttäuscht, weil die Verfahren in Deutschland so unspektakulär sind?
Rimini: Gerichte sind schon von ihrer Architektur her Respekt einflößend. Und in Hamburg, als wir zum ersten Mal gemeinsam in einem Gericht gesessen haben, gab es ein feinmaschiges Sicherheitsfangnetz vor der Anklagebank. Verhandelt wurde ein Fall, in dem ein Mann seiner Frau 56 Messerstiche zugefügt hatte. Die Gutachterin zählte auf, wie jeder einzelne Stich gesetzt wurde. Beeindruckend.
WamS: Was ist das Dramatische am deutschen Prozessrecht?
Rimini: Es hat seine eigenen Regeln, die teilweise von kruder Langsamkeit sind. Der Verteidiger, der bei uns mitspielt, hat kürzlich eine Frau verteidigt, die Kleinstdelikte verübt hat, etwa den Diebstahl einer Tüte Weingummis. Da es sich um 111 Straftatbestände handelte, wurden alle einzeln aufgelistet.
WamS: Das wollen Sie nachstellen?
Rimini: Nein, die Theaterprozessordnung ist eine andere. Aber es geht schon darum, die Spielregeln der Justiz abzubilden.
WamS: Wer ist im Gericht die theatralischste Figur?
Rimini: Der Richter hat die festgelegteste Rolle, vom Angeklagten erfährt man am wenigsten, weshalb wir uns für den Zeugen entschieden haben. Denn die Form des Erinnerns einer Geschichte ist für das Theater die interessanteste.
WamS: Was fasziniert Sie so am dokumentarischen Theater?
Rimini: Unsere Darsteller sind zu drei Vierteln Menschen, die aus dem Gerichtsumfeld kommen: Da haben wir etwa Herrn Weisgerber, einen sehr religiösen Menschen, der sowohl Gottesdienste als auch Gerichtsverfahren als Zuschauer schätzt, weil dort - wie er es nennt - der Mensch in eine Ordnung gebracht wird. Dieser Mann ist mit seiner Authentizität durch einen Schauspieler nicht ersetzbar.
WamS: Wurden Sie durch die TV-Gerichtsshows inspiriert?
Rimini: Wir sind mit einigen unserer Darsteller zum Casting gegangen. Von sieben kamen vier durch. Beim Casting hat sich vor allem bestätigt, wie weit die Shows von der Realität entfernt sind. Die Gerichte leiden übrigens sehr unter der Verrohung der Sitten, dem "Salesch-Effekt".
WamS: Was macht einen guten Zeugen aus?
Rimini: Ein guter Zeuge ist ein souveräner Zeuge. Je emotionaler jemand reagiert, umso schlechter ist es für die Aussage. Wobei es aber gar nicht schlecht ist, wenn nicht alles ganz logisch ist.
WamS: Wieso das?
Rimini: Wir haben uns mit einer Wahrhaftigkeits-Gutachterin unterhalten, die sehr häufig bei schwierigen Fällen eingesetzt wird. Ein Wahrhaftigkeitskriterium ist Unplausibilität. Wenn nach langer Zeit alles in der Erinnerung perfekt passt, ist das eher verdächtig.
"Zeugen!": Hebbel am Ufer (HAU2), Premiere: 10.1.
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