Von Harald Welzer
24.07.2013 / Frankfurter Allgemeine
Es hängt alles vom Rahmen ab: Die Theatergruppe „Rimini Protokoll“ erklärte die komplette Hauptversammlung der Daimler AG zu ihrem Stück und zeigt, welche Wirkung kleinste Eingriffe haben können.
„Dies ist hier weder ein Schauspiel noch ein Theaterstück!“ Das fühlte sich Klaus Bischoff, Vorstandsmitglied der Daimler AG, mitzuteilen bemüßigt, als er am 8. April 2009 die Jahreshauptversammlung des Konzerns eröffnete. Solche Hauptversammlungen dauern den ganzen Tag, es kommen mehr als 6000 Teilnehmerinnen und Teilnehmer, Kleinaktionäre genauso wie institutionelle Investoren, Gewerkschafter genauso wie Journalisten. Wer selten kommt, sind Schauspieler und Regisseure. Dabei sind solche Versammlungen gigantische Inszenierungen, in denen von der Dramaturgie der Sprecherreihenfolge, der Produktpräsentation, der Licht- und Tonregie, der Kaffeepausen und so weiter alles perfekt choreographiert ist, perfekt, wie es sich für den schwäbischen Autohersteller gehört.
Was man nicht völlig kontrollieren kann bei einer solchen Hauptversammlung, sind die Auftritte und Wortbeiträge der Kleinaktionäre. Manch einer macht seinem Unmut Luft, dass die Dividende zu niedrig ausfällt, die falschen Autos gebaut oder die falschen Unternehmen zugekauft werden. Es gibt auch diejenigen, die subversiv zu Werke gehen und ihre stimmberechtigende Aktie nur besitzen, um auf der Hauptversammlung das Wort ergreifen, gegen irgendetwas Skandalöses protestieren, Umweltsünden anprangern oder den Kapitalismus anklagen zu können. Insgesamt weist eine Hauptversammlung alle Merkmale eines gelegentlich langatmigen, aber doch durch Aufwand beeindruckenden Theaterstücks auf, in das, wie im modernen Regietheater üblich, auch einige unkontrollierte Momente eingefügt sind, die das Ganze in Grenzen unvorhersehbar und damit interessant machen.
Die Theatergruppe „Rimini Protokoll“ hatte zu alldem eine geniale Idee. Sie erklärte die komplette Hauptversammlung zu ihrem Stück, vergab Aktien an 150 Zuschauer, die damit ein Zutrittsrecht hatten, und veranlasste eben Klaus Bischoff zu der versichernden Mitteilung, man habe es mit keinem Schauspiel zu tun. Genau damit säte er natürlich erst allen Argwohn, manches an der Veranstaltung könne doch Theater sein. Diese Interferenz zwischen zwei unterschiedlichen Definitionen der Situation - Hauptversammlung oder Theaterstück - war nicht nur für Klaus Bischoff höchst beunruhigend. Denn wenn der Referenzrahmen unklar ist, in dem eine Situation zu deuten ist, gerät schnell alles aus den Fugen: Stimmen die Zahlen? Ist das wirklich ein Mitglied des Vorstands? Ist die Rede ernst gemeint oder eine Persiflage? Was ist Theater, was nicht?
Nun könnte man denken, es ging „Rimini Protokoll“ damals um die Entlarvung des inszenatorischen Charakters solcher Veranstaltungen, was ziemlich langweilig wäre. Tatsächlich ging es um etwas viel Interessanteres: nämlich um den Nachweis, dass es ausschließlich von der Eindeutigkeit des Rahmens abhängt, was ein Ereignis tatsächlich ist. Gerät dieser Rahmen aus den Fugen, geht alles drunter und drüber. Wie in Orson Welles’ legendärer Hörspielfassung von H. G. Wells’ „Krieg der Welten“, die am 30. August 1938 so realistisch als Livereportage über eine Invasion aus dem All im Radio kam, dass zwei Millionen Amerikaner den Angriff der Außerirdischen für bare Münze nahmen. Einige packten sogar hektisch ihre Sachen und liefen auf die Straßen, um vor dem befürchteten Gasangriff der Außerirdischen zu fliehen. Die Telefonleitungen waren stundenlang blockiert. Es dauerte Stunden, bis sich herumgesprochen hatte, dass der Angriff bloß eine Fiktion war.
Minimalinvasive Verschiebungen des Rahmens
„Rimini Protokoll“ arbeitet immer mit solchen minimalen Rahmenverschiebungen und fast nie mit Schauspielern, sondern mit „Experten“, Menschen, die genau in der Rolle auftreten, die sie im „wirklichen Leben“ innehaben. Dadurch, dass sie diese Rolle nun auf die Bühne bringen, wird aber der Rahmen gewechselt und damit die Definition verschoben: Normalerweise steht ja zum Beispiel ein Politiker gerade nicht auf der Bühne und stellt einen Politiker dar. Ein Politiker steht auf einem Marktplatz oder vor einer Fernsehkamera und stellt Authentizität dar. Mit dem Wechseln des Rahmens arbeitet „Rimini Protokoll“ beständig an einer Perforierung der Wirklichkeit, macht sie durchlässiger, als sie gewöhnlich erscheint. Dies aber nicht aus der Position der Wissenden und Belehrenden, sondern - chirurgisch gesprochen - minimalinvasiv: „Rimini Protokoll“ verändert nur eine einzige Variable und macht damit die Grenze zwischen Möglichkeit und Wirklichkeit dünner, durchscheinender.
Damit aber machen sie klar, dass alles in jedem Augenblick auch anders sein könnte; dass die jeweils gegebene Wirklichkeit in Wahrheit eine Kippfigur ist. Sie entpuppt sich als lediglich eine Variante vieler denkbarer Wirklichkeiten. Ein zentrales Prinzip der Arbeit von „Rimini Protokoll“ ist der systematische Einbezug des Zufalls in die Aufführungen: So wie einzelne Aktionäre mit absonderlichen Wortbeiträgen die Versammlungsroutine irritieren, Poster und Spruchbänder hochhalten oder unter Protest den Saal verlassen, so arbeitet der immer virulente Zufall dem Perforieren der Wirklichkeit zu. Daraus lässt sich etwas lernen: Erst wenn man den Einsprengseln anderer Wirklichkeitsdefinitionen und Weltverständnisse die Chance gibt, in Erscheinung zu treten, öffnet man Möglichkeitsräume, die durch das Verfolgen nur eines einzigen Pfades systematisch verschlossen bleiben.