Von Uwe Gössel
14.06.2004 / Berliner Zeitung
Es ist wohl der einzige Theaterort mit Autobahnanschluss: Der International Airport Brunswick an der A 2 von Hannover nach Berlin. "Weil der Himmel uns braucht" nennt das Theaterkollektiv Rimini Protokoll ihre jüngste Arbeit in Anlehnung an das Motto des deutschen Instituts für Flugsicherheit.
Rimini Protokoll, das Autoren-Regie-Trio Helgard Haug, Stefan Kaegi und Daniel Wetzel - derzeit Hausregisseure in Matthias Lilienthals HAU - arbeiten seit Jahren an der Fragestellung, wie in der Gesellschaft Welt konstruiert wird, um ihr als Phänomen habhaft werden zu können. Ihre Erzählstrategie wechselt je nach Gegenstand. Sie synchronisierten Bundestagsdebatten, stellten Gerichtsverhandlungen nach oder betrieben eine fächerübergreifende Phänomenologie des Sterbens. Mit Letztem, "Deadline", waren Rimini Protokoll zum diesjährigen Theatertreffen eingeladen. Nun lieferten sie zwei Uraufführungen beim Theaterformenfestival in Braunschweig und Hannover ab.
Gemeinsam ist ihren Arbeiten, dass sie das Medium Theater nutzen, um den fiktionalen Anteil an der Weltkonstruktion nicht nur aufzuzeigen, sondern sinnlich erfahrbar zu machen. In "Weil der Himmel uns braucht" geschieht das also mit einem kleinen Tempelhofbruder. Doch sie haben Gegner. Eine Bürgerinitiative protestiert mit Flugblättern (womit sonst am Flughafen!) "gegen ein Theater, das in Verharmlosung und Technologieergebenheit für die Verdummung der Menschen sorgt!" Die lässt Erwartungshaltung steigen. Wer Rimini Protokoll kennt, fragt sich sofort, ob die Echtheit diese Bürgergruppe bereits die erste Simulation ist.
Jeweils zwei Besucher werden alle zehn Minuten auf einen Parcours durch den menschenleeren ehemaligen Nazibau geschickt. An den einzelnen Stationen verfolgen sie über Kopfhörer Bruchstücke von Geschichten der Personen, die mit diesem kleinen Nischenuniversum verbunden sind. Oder sie blicken aus dem Fenster über ein fast flugzeugfreies Rollfeld und hören einer Stimme zu, die nach einem Flugzeugabsturz die Blackbox auswertet und auf diese Weise Wirklichkeit rekonstuiert. Auch die zweier Flugzeuge, die kürzlich über dem Bodensee zusammengeprallt waren. Als staunender Wanderer zwischen Zeiten, Orten und Geschichten setzt der Zuschauer Gehörtes und Gesehenes unabhängig zu einem neuen Dritten zusammen. Die Frage des Flughafenausbaus als lokalpolitisches Spannungsfeld interessiert Rimini Protokoll dabei weniger. Ihnen geht es eher darum, zu beobachten, wie die von ihnen Befragten ihre Welt wahrnehmen. Etwa der alte, fast taube Pilot, der seit siebzig Jahren direkt am Flugfeld lebt. Er scheint abzuheben, wenn er von den wilden Fliegerjahren um 1940 erzählt. Dann holt ihn seine Frau lächelnd auf den Boden zurück und schickt ihn ins Haus - ein kleiner roter Punkt gegenüber dem Tower.
Was ist das für eine Erzählform? Theaterinstallation, Dokumentarfilmtheater, Theaterhörspielperformance oder die Oral History eines Gebäudes mit Nazivergangenheit, verlängert in die virtuelle Zukunft? Der Besucher wird mündig, konstruiert sich zum Zeugen, wird hörender Zuschauer und handelnder Teil einer Installation. In dieser Mitgestaltung liegt der politische Charakter dieser Arbeit.
Auch in "Sabenation. Go home and follow the News", der zweiten Arbeit von Rimini Protokoll, dreht sich zwar alles ums Fliegen, aber es geht um den Absturz der belgischen Fluggesellschaft Sabena 2001. 12 000 verloren Mitarbeiter ihre Existenz. Sieben von ihnen stehen in Braunschweig auf der Bühne. Sie waren Pilot, Stewardess oder vom Bodenpersonal. Sie sind Experten in ihrem Beruf, aber nun arbeitslos. Auf der Bühne erzählen sie von ihrer Biografie und von ihren Strategien der Arbeitssuche. Die Stewardess unterrichtet nach 143 erfolglosen Bewerbungen junge Frauen, die Stewardess werden wollen. Der Fluglotse organisiert jetzt die Verpackung von 800 000 Pillen gegen Depressionen. Und der Mann vom Catering spielt Marsupilami im Kostüm vor dem Brüsseler Atomium. Ihr gemeinsamer Mittelpunkt ist das berufliche Scheitern. Es ist nicht ihre Schuld, es bleibt aber ihr Problem. Damit erzählen sie von einem Phänomen unserer Gesellschaft, in der sich der Einzelne immer stärker selbst organisieren muss. Auch in dieser Theaterarbeit gelingt es Rimini Protokoll nicht nur privaten Persönlichkeiten auf der Bühne einen Rahmen zu geben, in dem sie glaubhaft die Person sind, von der sie erzählen, sondern auch einen Raum zu stiften, in dem der Zuschauer eingeladen ist, diese Geschichten in Zusammenhang mit der eigenen Version von Wirklichkeit zu bringen. Es wird nachvollziehbar, wie mit dem Erzählen von Biografie Geschichts- und Zukunftsklitterei betreiben wird - und wie die Wirklichkeit dahinter zu verstehen und entziffern wäre. So setzt sich aus den perspektivisch verschobenen Einzelteilen die Sabena-Geschichte zusammen als ein markantes Röntgenbild unserer Zeit.
Unser Autor ist designierter Leiter des internationalen Forums beim Theatertreffen. Sabena. Go home and follow the News kommt im Oktober ins HAU.