Von Christine Wahl
05.04.2009 / tagesspiegel
Neulich in der Schaubühne fand man auf seinem Platz einen großen Pappkarton vor. Darauf ein Zettel:
„Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, nehmt euch aus der Kiste einen Stift, einen Pfeil, ein gefaltetes DIN-A4-Blatt und einen Block von gelben Klebezetteln.“ Als die Vorstellung begann, sollten die Zuschauer eine Pappkrone basteln.
Dass ein Abend mit dem gemeinsamen Auspacken von Spielsachen beginnt, ist nichts Ungewöhnliches in der freien Theaterszene. Berliner Bühnenbesucher fertigten in den letzten Monaten Gesichtsmasken, Strohsterne und Partydekorationen an. Laut Programm sollte bei dem Schaubühnen-Gastspiel der Gruppe Turbo Pascal beim Basteln in einer Art bürgerinitiativem Modellversuch über die Demokratie nachgedacht werden.
Wesentlich mehr kreative Eigenleistung fürs Eintrittsgeld lässt das Performance-Duo Signa zu, das auf mehreren hundert Quadratmetern ganze Diktaturen oder Psychiatrien nachbaut, in denen die Theatergänger sich dann in freier Improvisation als Hobby-Ethnologen oder Borderline-Patienten austoben können. Signas Theatersimulation hat es letztes Jahr immerhin zum Theatertreffen geschafft: Wer ein bisschen Diktaturerfahrung mit Sexappeal nachzuholen hatte, konnte sich für 25 Euro in die Kunststadt Rubytown einkaufen, von Schauspielern in Militäruniform anschnauzen und in der Peepshow eine Darstellerin für sich strippen lassen. Das ist immerhin billiger, als zum Beispiel Kalte-Kriegs-Sehnsüchte in einer Schweizer Hotelkette zu befriedigen, die sich auf Erlebniskaraoke in ehemaligen Atombunkern spezialisiert hat, oder nach Leipzig ins Schulmuseum zu reisen, um sich von einer DDR-sozialisierten Lehrerin in einer realsozialistischen Retro-Unterrichtsstunde als „Klassenfeind“ abkanzeln zu lassen. An diesem Wochenende hatte in Köln Signas jüngstes Projekt „Die Hades-Fraktur“ Premiere, die einen sektenartig angehauchten „Geheimklub“ mit windigen Spielangeboten und in Hinterzimmern gefangenen Frauen simuliert.
Neu ist das Mitmachtheater natürlich nicht. Der Futurist Filippo Tommaso Marinetti wartete schon vor knapp hundert Jahren mit abenteuerlichen Vorschlägen auf, aus Besuchern (unfreiwillige) Mitspieler zu machen: „Auf ein paar Sessel wird Leim geschmiert, damit die Zuschauer kleben bleiben und so die allgemeine Heiterkeit erregen ... Ein und derselbe Platz wird an zehn Personen verkauft, was Gedrängel, Gezänk und Streit zur Folge hat“, schrieb er 1913 in seinem Manifest „Das Varietétheater“.
Neu ist die Vehemenz, mit der sich insbesondere freie Theatergruppen bei der Kreation modellhafter Kunst-Soziotope überbieten, die man in der Regel daran erkennt, dass im dramaturgischen Beipackzettel „interaktiv“, „soziale Plastik“, „aktiver Teilnehmer“ und/oder „live gewordenes Computerspiel“ steht. Man erfährt hier meist mehr darüber, wie sich Theatermacher der Google-Generation eine Diktatur oder eine Psychiatrie vorstellen, als über Diktatur oder Psychiatrie selbst.
Angesichts der Tatsache, dass all diese Inszenierungen, die Politik, Gesellschaft und Individuum an allen Ecken und Enden auffahren, mit naiven dramatischen Modellversuchen schwer zu toppen sind, liegt die gewitztere und intelligentere Strategie des Mitmachtheaters inzwischen definitiv darin, den Spieß umzudrehen: Statt eine Art Second Life als Spielwiese zu schaffen, nimmt man die gegebene Realität und drapiert einen Theaterrahmen darum.
Genau das tut das Regietrio vom Rimini Protokoll: Am kommenden Mittwoch findet im Berliner ICC die jährliche Hauptversammlung der Daimler AG statt. Und diese höchst reale Veranstaltung deklarieren nun Helgard Haug, Stefan Kaegi und Daniel Wetzel zu einer Bühnenproduktion – schlichtweg dadurch, dass sie, institutionell angebunden ans HAU, knapp zweihundert Theaterzuschauer dazu einladen. Die Theaterbrille entstellt den realen Akt quasi zur Kenntlichkeit: Durch sie zeigt sich die Aktionärsversammlung vergleichsweise unverstellt als das, was sie ist. Eine Inszenierung. Das Selbstdarstellungsritual eines Konzerns – mit der unvermeidlichen Erkenntnis: Life is bigger than theatre.
Die Theatralisierungsstrategien, die man durch die Rimini-Brille sieht, könnte sich jedenfalls keine Bühne leisten. Das fängt beim personalkostenintensiven Hostessen- Aufgebot im U-Bahnhof an und hört beim gut aufgestellten Backstage-Bereich nicht auf, wo „Back-Office-Souffleure“ alle erdenklichen Fragen an die Geschäftsführung bereits im Vorfeld zu antizipieren versuchen, um sie später im Bedarfsfall juristisch korrekt nach vorn geben zu können.
Regie – so steht es in einem von Rimini Protokoll verfassten Begleitheft – führt allein das Team von Daimler Investor Relations. „In den Hauptrollen“ sehen wir unter vielen, vielen anderen „Dr. Dieter Zetsche als Vorstandsvorsitzenden, Jürgen Grässlin als Vertreter der Kritischen Aktionäre Daimler, 8 bis 10 000 Teilhaber als anwesende Aktionäre“ sowie „180 junge, gut aussehende Frauen und Männer als Hostessen/Hosts“.
Das, was die viel bemühte epische Theatertheorie für die Schauspielkunst gefordert hatte – der Schauspieler ist nicht Hamlet, sondern er betont mehr oder weniger zeigefingernd, dass er ihn spielt – vollzieht Rimini Protokoll so in einer lustigsubversiven Volte in stillschweigender Eigeninitiative am Cast dieses Realtheaters: Durch die Differenzierung zwischen einer Person bzw. Personengruppe und ihrer sozialen Rolle wird man ständig auf die Lücke gestoßen, wo gleichsam die Inszenierung klafft.
Politischer als Riminis Daimler-Hauptversammlung kann Theater dieser Tage kaum sein, wobei kreative Krisengewinnlerverdächtigungen beizulegen sind. Denn die Idee, alltägliche Inszenierungsrituale im Allgemeinen und eine Hauptversammlung im besonderen zur Theaterveranstaltung zu deklarieren, hatte das Regiekollektiv schon vor Jahren. Ein lange vor der Wirtschaftskrise in Düsseldorf angestrengter Versuch mit der Henkel-Hauptversammlung scheiterte – weil dem Konzern die Aktion mehr als unrecht und dem produzierenden Theater vor diesem Hintergrund das Risiko zu hoch war. Als Rimini Protokoll daraufhin begann – diesmal, ohne den Konzern in sein Vorhaben einzuweihen –, im Dienste der Kunst Daimler-Aktien zu kaufen, war an Autokrise, Opel-Rettungsversuche, Abwrackprämien und Kurzarbeit noch nicht zu denken.
Rimini revolutioniert mit dieser Daimler-Hauptversammlung auch das Mitmachtheater-Genre auf eine selten kluge Art. Denn Hauptversammlungen sind keine öffentlichen Veranstaltungen; Zutritt haben nur Aktionäre. Die können ihr Teilnahme- und ihr Stimmrecht allerdings an andere Personen überschreiben, weshalb Rimini im Vorfeld nicht nur per E-Mail-Verteiler zum Aktienkauf aufrief (und die Transferkosten übernahm), sondern auch Aktionäre suchte, die ihre Einladung an sie überschrieben.
Für die etwa 200 Theaterbesucher, die jetzt über diese Rimini-Kanäle an dem „Schauspiel in fünf Akten“ teilnehmen, bedeutet das: Sie sind realiter nicht nur Zuschauer, sondern gleichzeitig, ob sie wollen oder nicht, Aktionäre oder juristisch korrekte Aktionärs-Vertreter – also Mitspieler – inklusive sämtlicher Rechte und Pflichten: vom Stimmrecht übers Recht, sich auf die Rednerliste setzen zu lassen (und dann auch tatsächlich ans Mikro zu treten) bis zum Recht aufs Buffet.
Wo man im Simulationstheater infantil spielt, beeinflusst man hier also höchst reale Vorgänge. Am Montagabend gibt es im HAU ein „Briefing zur Hauptversammlung“ mit Experten. Und während der Hauptversammlung selbst kann man sich auf Rimini-Vermittlung im Foyer ebenfalls von Spezialisten unverständliche Vorgänge erklären lassen oder per Handy die Reden des Hauptdarstellers Dr. Zetsche zum Geschäftsbericht aus dem letzten und dem vorletzten Jahr abrufen. Endlich eine echte Theater-AG.
(Erschienen im gedruckten Tagesspiegel vom 05.04.2009)