Von Mirko Heinemann
02.03.2009 / zitty
Herr Kaegi, wie schwer war es, die Muezzine zu finden?
Weniger schwer, als ich anfangs glaubte. Die meisten Muezzine, die ich getroffen habe, waren von Anfang an begeistert von der Idee. Sie sind sehr stolz auf den Azhan, den Gebetsruf, und tragen ihn gerne auch außerhalb der Gebetszeiten vor. Die Form des dokumentarischen Theaters schien irgendwie kompatibel mit Immams, die kein Theater mögen, das Menschen was vorgaukelt.
Die Regierung in Kairo möchte die Muezzine abschaffen und durch einen einheitlichen, zentral gesteuerten Gebetsruf ersetzen. Wie macht man daraus ein Theaterstück?
Ich habe den Unterschied selber erlebt. Bei Damaskus gibt es einen Berg, von dem aus man die ganze Stadt unter sich hören kann. Es ist ein faszinierendes Erlebnis, wenn der Gebetsruf ertönt. Ein Muezzin nach dem anderen beginnt zu singen, die Stimmen sind extrem unterschiedlich. Im jordanischen Amman dagegen gibt es nur noch einen Muezzin. Der Ruf wird per Radio an alle Moscheen übertragen und dann exakt gleichzeitig über Lautsprecher verkündet. Mich interessiert, wie Menschen durch Technik ersetzt werden, wie ein altes Ritual einem technischen Vorgang weicht.
Wie haben Sie die Idee realisiert?
Ich kannte Heiko Sievers, den Regionalleiter des Goethe-Instituts in Kairo, weil ich bereits in Delhi mit ihm zusammengearbeitet hatte. Er wollte eigentlich, dass ich ein Stück über Taxifahrer in Kairo mache. Aber als ich ihm meine Idee erzählte, war er sofort vorsichtig begeistert.
Nach welchen Kriterien haben Sie die Muezzine ausgewählt?
Das war ein langer Prozess. Ich habe mir unzählige Biografien angehört. Mir war wichtig, dass Menschen aus verschiedenen Schichten dabei sind, und auch ein blinder Muezzin: Blinde wurden früher oft Muezzine, weil sie vom Minarett aus nicht in andere Wohnungen hineingucken konnten. Es ist auch einer der 30 Auserwählten dabei, die den zentralen Gebetsruf ausrufen werden, wenn demnächst nur noch eine Stimme in die ganze Stadt übertragen wird. Er kommt aus einem anderen Umfeld als die anderen drei Hauptdarsteller, die von ihrem Beruf kaum leben können. Er lebt vom Immobiliengeschäft und verdient auf erlesenen Events gut als Koranrezitator.
Wie ehrlich sind die Muezzine, wenn sie von sich erzählen?
Es ist sehr viel Ungesagtes auf dieser Bühne. Oft musste ich aus kulturellem Respekt sagen, okay, wenn du das nicht sagen willlst, dann bleibt es halt zwischen den Zeilen. Ich glaube, dass sich für Ägypter viel über kleine Sprachnuancen vermittelt, die in den Untertiteln nie wiederzugeben sind. Ich hoffe aber auch, dass die Muezzine in Berlin nochmal lockerer werden und sagen, was sie aus Angst vor der Autorität in Kairo verschwiegen haben.
Haben Sie in Kairo Erfahrungen mit der Zensur gemacht?
Ägypten hatte ich als Achse des Guten abgepeichert, als Demokratie. In Wahrheit ist es ein Land, in dem – mit Hilfe von westlichem Geld – sehr viel über Angst und Macht funktioniert. Sobald ein bisschen ausgeschert wird von dem dem, was der Staat für einen vorsieht, kann man sich auf nichts mehr verlassen. Ich habe viele Menschen getroffen, die nur mit mir sprechen wollten, wenn irgendjemand sie dazu autorisierte.
Gab es Probleme mit offiziellen Stellen?
Das Ministerium für regligiöse Angelegenheiten, bei dem die Muezzine angestellt sind, war von Anfang an involviert. Die wollten, dass nur bestimmte Muezzine auf die Bühne gehen. Das wollte ich wiederum nicht, weil ich diejenigen Muezzine vorstellen wollte, die ihre Stimme verlieren werden. Dann wollten sie nicht, dass ein blinder Muezzin ins Ausland reist und dort für das Bild Ägyptens steht. Es gab viele Gespräche und ein Machtpoker bis zuletzt. Aber jetzt sind die Muezzine in Berlin. Am Ende klappts immer, sagen die Aegypter.
Was wollen Sie den Zuschauern in Deutschland vermitteln?
Die Globalisierung und der Nahostkonflikt hat den Islam sehr nahe an Europa herangebracht. Wenn ein Minarett gebaut werden soll oder Bilder von Terroristen präsentiert werden, hat man das Gefühl, über den Islam zu reden. Das ist natürlich ein extrem verengtes, gesteuertes Bild, das sich nicht deckt mit der Erfahrung von Alltag in Aegypten, von Leuten, die zwar religiös sind, aber keine Fanaktiker. Die fünf Mal am Tag zwischen Kiosk und Straßenkreuzung ein bisschen Pappe ausbreiten, um darauf zu beten.
Woher kommt Ihre Motivation, Experten auf die Bühne zu stellen und sie erzählen zu lassen?
Biografien sind sehr gute Stücktexte. Es gibt sicherlich viele Regisseure, die sich als große Erzähler verstehen oder als Virtuosen, die Schauspieler dahin kneten, dass sie auf der Bühne hauchen, welche mythische Welten sie im Kopf haben. Ich benütze das Theater lieber als Fernglas, als kleines Labor, wo ich Realität mir solange angucken kann, bis ich damit weiterkomme.
Warum drehen Sie keine Dokumentarfilme?
In der Tat, da wäre vieles einfacher. Ich würde ein bisschen Zeit beim Drehen verbringen und hätte dann meine Ruhe am Schnittplatz. Ich würde die Erzählungen so editieren, wie sie mir passen. Ich wäre künstlerisch viel freier. Beim Theater geht das nicht. Das fängt schon damit an, dass ich den Protagonisten erkläre, was das Theater für ein Ort sein wird und welche Zuschauer kommen werden. Bei den Muezzinen zum Beispiel war es schwierig, ihnen klarzumachen, dass sie während der Aufführung nicht jederzeit beten können, auch wenn gerade Gebetszeit ist.
Aber auch die Inszenierung ist ein Eingriff. Sie schreiben den Text, Sie verkürzen, suchen spannende Passagen aus…
Dennoch ist für mich das Theater ein Ort des maximalen Realität-Impacts. Im Theater kann man nicht wegzappen. Und gerade, wenn eine exotische, fremdartige Welt auf der Bühne ist, kann man sich nicht so leicht wegdrehen. Es ist eine Livesituation, eine Begegnung. Die Darsteller sind vor Ort, und es gibt für die Zuschauer die Möglichkeit, nach dem Stück nachzufragen oder Kontakte zu suchen.
Was finden Sie selbst spannend an Biografien?
Der Urmotor meiner Arbeit ist die Neugier. Ich möchte aber mehr Erkentnisse als solche, die man auf einer Drei-Tage-Kairo-Reise erlangen kann. Ich habe weniger Interesse an Geschichte, die zurückliegt, als daran, Menschen zu treffen und deren Geschichte nachzuverfolgen. Ich möchte verstehen, wie jemand so geworden ist, wie er ist. Wie hat ihn das, was er gemacht hat, geformt, verändert? Wie sind Stimmen von Muezzinen so geworden, oder wie sind Stimmen von Call Center-Mitarbeitern anders geworden?
Sie waren lange Zeit auf Reisen, Sie haben an Orten wie Delhi, São Paulo, New York, Dubai gearbeitet. Wann vergeht das Fernweh?
Ich bin immer gerne gereist, ich glaube, wenn man Strecken zurücklegt, dann entsteht ein ganz guter Durchzug im Kopf. Aber ich habe jetzt acht Jahre ohne Wohnung gelebt und immer alles im Koffer dabei gehabt. Ich habe jetzt genug davon. Seit Januar habe ich eine eigene Wohnung in Berlin, und ich freue mich darauf, ein bisschen mehr aufheben zu können als die drei Bücher, die ich gerade lese oder die zwei Hosen, die ich trage.
Wie ist Ihr Verhältnis zur ehemaligen Heimat, der Schweiz?
Ich liebe die Schweiz und ich habe dort viele gute Freunde. Ich bin immer mal wieder gerne dort, was beinhaltet, dass ich auch gern wieder abreise.
Stefan Kaegi, 36, stammt aus Solothurn in der Schweiz. Er hat zunächst in Zürich Kunst und dann in Gießen Theater studiert. Er hat als bildender Künstler gearbeitet, als Schriftsteller und als Journalist. Sowohl allein als auch als Mitglied in der Gruppe „Rimini-Protokoll“ inszeniert er dokumentarisches Theater. Er holt so genannte „Experten des Alltags“, auf die Bühne und lässt sie von sich erzählen. Er hat mit Lastwagenfahrern, Modelleisenbahnern und Call Center-Agents gearbeitet. Regelmäßig sind seine Arbeiten am Berliner HAU-Theater zu sehen.