Von Doris Meierhenrich
23.06.2006 / Berliner Zeitung
Ungefähr so müsste es bei einer Touristensafari durch die Weidegründe Afrikas zugehen oder beim Wale-Watching vor der Küste Grönlands: Eine Besucherplattform hinter Schaufensterglas bewegt sich langsam, aber sicher in die wilderen Zonen vor, wo plötzlich die nur vom Hörensagen bekannten, menschenscheuen Phänomene dieser Welt real vor Augen springen.
"Cargo Sofia-Berlin", die neueste Theatererkundung von Stefan Kaegi, durchstreift nicht die Natur, sondern die abenteuerliche Autobahn- und Industrielandschaft Berlins. Einen fantastisch scharfen Ausblick ermöglicht ein rollender Zuschauercontainer mit Glaswand, der von einem Lkw durch die Stadt gezogen wird. Die Objekte der Neugierde sind keine exotischen Tiere, sondern wir, die Schaulustigen selbst, und diejenigen, die unseren kultivierten Wohlstand unter merkantilen Wildnis-Bedingungen täglich herbeischleppen: die Trucker.
Eigentlich sind sie die roten Blutkörperchen in den Lebensadern Europas. Tatsächlich aber, davon erzählt "Cargo Sofia-Berlin", existieren die Trucker in ihren Fahrerhäuschen zwischen Grenzstau, Zeitdruck, Zoll-Bestechung und überteuerten Duschgelegenheiten so menschenfern und fern von Menschenwürde, dass ihr Ausstellungswert einem Grönlandwal schon nahe käme. Klingt zynisch, aber zynisch ist dieses Road-Theater nur, insofern diese Welt selbst zynischen Gesetzen folgt. Und gerade in dieser Doppelstrategie aus aufklärendem Soziologieunterricht und abgründig voyeuristischer Schaulust liegt das Hintersinnige des "Recherche-Theaters" von Stefan Kaegi. Die vordergründig so politisch korrekte Theaterbutterfahrt ins grenzwertige Fernfahrermilieu, sozialkritischer Erkenntnisgewinn inklusive, liefert den Spiegel gegen jede Zuschauerselbstgefälligkeit gleich mit.
Jeder, der am HAU2 in den großen, weißen Laster steigt, wird sich im Laufe der Erkundungstour über die Rastplätze und Großmärkte Berlins und durch die erzählten Leben der beiden bulgarischen Fahrer Ventzislav und Svetoslav auch mehrfach um die eigene Position drehen. Denn eine dritte Erzählebene erklärt das kriminelle Transportersystem der deutsch-bulgarischen Großspedition "Willi Betz", auf dem der grotesk billige Warenverkehr Europas und damit der eigene Konsum zum Großteil beruht.
Während man im Frachtraum wie in einer Black Box sitzt und Geschichten und gesichtslose Autobahnen an sich vorbeiziehen lässt, gerät man erst selbst zur Ware. Als dann aber der Zuschauerkasten auf den Avus-Rastplatz biegt, langsam an den Autobahnriesen vorbeirollt wie an einer Galerie und all die realitätshungrigen Theatergängeraugen in die Führerhäuschen starren wie in ein Warenregal, ist es, als sei der Lehrpfad umgeschlagen in ein Herrenritt durch den Menschenzoo.
Das Unbehagen an der kategorisierenden Recherchelust ist der aufreibende, selbstreflektierende Motor dieses schäbig-schönen Schauspiels. "Cargo Sofia -Berlin" ist wie die behutsame Ausweitung der kleinen Eisenbahn-Modellwelt Schweiz aus "Mnemopark" in ein etwas größeres Modell der Warenwege Europas. Nach der zweistündigen Fahrt findet man nichts mehr grotesk an dem Theater, außer dessen Realität. In der es billiger ist, Klopapier über tausende Kilometer zu transportieren, anstatt es selbst herzustellen.
Cargo Sofia-Berlin täglich bis 1. Juli (außer 25. Juni), Start 20 Uhr am HAU2, Hallesches Ufer 32, Karten: 25 90 04 27