Von Petra Kohse
13.01.2004 / Frankfurter Rundschau
Am Anfang des Theaters war das Gericht. Aus dem kultischen Nachspielen der Tat in sühnender (und zugleich wiederholender) Absicht, entstand die Tragödie. Noch heute bedient sich das Drama auf der Bühne und im Film gerne aus dem Fundus realer Grenzüberschreitungen. Das Fernsehen käme ohne Kriminal-, Gerichts- und Gefängnisgeschichten nicht aus.
Trotzdem finden Kunst und Verbrechen natürlich auch in der pluralistischen Mediendemokratie in getrennten Sphären statt, und nur an der jeweils äußersten Peripherie lassen sich Anknüpfungspunkte herstellen. Beim Eröffnungsspektakel des Berliner Theaters Hebbel am Ufer im November, das "Art without crime" übertitelt war, ging es diesbezüglich denn auch im wesentlichen um Fälle von Zensur oder um die Simulation von kriminellen Handlungen. Die Regiegruppe Rimini Protokoll allerdings wollte sich mit dieser Einseitigkeit nicht abfinden und versuchte damals im öffentlichen Gespräch mit Leuten, die am Gericht arbeiten, die Theatralität der dortigen Vorgänge herauszuarbeiten.
Unstrittig war, dass es bei Gericht Kostüme, festgelegte Plätze und Rollenverteilungen gibt. Die These allerdings, dass es sich bei einem Prozess um die gespielte Strichfassung eines Stückes handle, das in den Akten (!) vorher genau ausformuliert wurde, ließ sich nicht halten. Und das nicht nur, weil für die Urteilsfindung das "Prinzip der Mündlichkeit" zählt und damit auschließlich das, was während der Prozesses gesagt wird.
Sondern, weil allen an einem Prozess Beteiligten auf das Bedrückendste klar ist, dem Richter, dem Schöffen, dem Staats- und Rechtsanwalt, den Protokollanten, der Reporterin, der Gerichtszeichnerin, den Zuschauern und dem oder der Angeklagten sowie dem Opfer der Tat und den Zeugen, dass am Ende des Prozesses das echte und nichts als das echte Leben steht. Da geht dann vielleicht jemand ins Gefängnis oder Erlittenes bleibt ungesühnt. Ein Abschluss ist erreicht, der am nächsten Tag nicht wieder zur Debatte steht.
Schicksalhafte Halböffentlichkeit
Helgard Haug, Stefan Kaegi und Daniel Wetzel von Rimini Protokoll haben an ihrem Gerichtstheaterprojekt trotzdem weitergearbeitet. Tatsächlich sind die Fachdetails über den Apparat, in dem das Verbrechen hierzulande verwaltet wird, prinzipiell faszinierend genug, ist das Gericht als Ort in seiner schicksalhaften Halböffentlichkeit dramatisch genug und erscheinen Täter und Opfer in ihrer Ausgeliefertheit menschlich authentischer als irgendwo sonst in der Gesellschaft.
Zeugen! entstand, ein "Strafkammerspiel", und hatte als Koproduktion des Berliner HAU und des schauspielhannover am Samstag im Theater am Halleschen Ufer Premiere. Es ist ein seltsamer Abend. Leise, berührend und witzig, dann wieder verpusselt und auf fast platte Weise vorwurfsvoll. Keineswegs werden stringent die Punkte des Interesses abgehandelt, sondern oft nur beiläufig gestreift, manchmal gar nicht. Fragwürdigkeit kommt auf - gefolgt allerdings von der Einsicht, dass es bei Zeugen! um mehr geht als die Wirklichkeit beim Landgericht Moabit. Dass es eher anhand des Themas um Rollenzuweisung, Rollenspiel und Rollenlosigkeit geht, und zwar live und in Echtzeit auf der Bühne.
Schwarzlockig und fiesblond
Zwei Schauspieler treten auf. Franziska Henschel trägt eine schwarzlockige Perücke und präsentiert die Mappe und die Erfahrungen der Berliner Gerichtszeichnerin Constanza Schargan. Fabian Gerhardt sitzt als Angeklagter in einem Panzerglaskasten, nimmt, während er das erste Mal spricht, aber seine fiesblonde Langhaarperücke und seinen falschen Schnäuzer ab und verwandelt sich vom sofort Verdächtigen in einen, wenngleich weiterhin gefangenen, Moderator.
Die Laiendarsteller spielen sich selbst: der sanft nuschelnde Detlef Weisgerber den passionierten Gerichtszuschauer, Brigitte Geier eine Beraterin von Frauen vor Gericht, Ilse Nauck die hausmütterliche Schöffin, Eckart Fleischmann den süffisanten Anwalt, Thomas Dahlke einen Theatertischler, der die Raumatmosphären des Landgerichts auf der Bühne abbilden soll und Brigitte Neubacher die Angeklagte, die einmal bereits unschuldig verurteilt worden ist.
Der Glaskasten steht links hinten, in der Mitte des Bühnenhintergrundes betitelt eine Mischung aus Zapfsäule und Bahnhofsanzeige die Abschnitte der Inszenierung, rechts oben prangt eine steinerne Rosette an der Wand und rechts vorne baumelt der Apfel der Erkenntnis vom Bühnenhimmel als sei es ein Mikrofon (Bühne: Steffi Wurster). Tischler Thomas beißt hinein und hat ihn am Ende aufgegessen, wie er auch sonst den burschikosen Unbeeindruckten spielt, den Handwerker eben, der sich mit Tischhöhen und gerichtstypischen Blenden auskennt und sich nach dem Theaterjob auf eine Zeit als Schiffsinnenausbauer im türkischen Antalya freut.
Die Figur des Tischlers ist vermutlich auf die Beobachtung der Gerichtszeichnerin hin aufgenommen worden, dass im Gericht ständig gehämmert und gebohrt wird. Wie das auf der Bühne Gesagte überhaupt vor allem den persönlichen Assoziationen und Erfahrungen der Darsteller entstammt. Dass Roben 300 Euro kosten und nicht gewaschen werden können. Dass Zeuginnen sich oft fühlen wie Angeklagte. Dass der Spruch "Die Sonne bringt es an den Tag" in Moabit an zentraler Stelle über den Köpfen dräut. Zuschauer Weisgerber vergleicht das Gericht mit einer Kirche und liest einen Brief vor, den er einmal an den Polizeipräsidenten geschrieben hat, als ihm ein Prozess seltsam vorkam.
Akten und Spitzendeckchen
Auch privat werden die Darsteller kenntlich. Schöffin Nauck zeigt, wie sie zuhause Spitzendeckchen in Form bringt, deklamiert als ehemalige Beschäftigte der DDR-Post die verschiedenen Stempel, die es gab, und bekommt aus ihrer Stasi-Akte vorgelesen. Sie grinst, als es um einen früheren Verlobten geht. Beraterin Geier berichtet, wie sie einmal zum Casting einer Gerichtsshow ging.
Dazwischen etwas Institutskolorit. 12 Uhr Untreue, 13 Uhr Diebstahl. Der wichtigste Paragraf im Landgericht ist Mord, Raub, Vergewaltigung. Paragraf 310 : Vorbereitung eines Explosions- und Strahlenverbrechens. Dann wieder scharren alle mit den Füßen, nicken ein oder lächeln ins Publikum.
Am Ende allerdings franst die Studie doch noch aus, wenn die Angeklagte Neubacher nur ganz kurz und tränenerstickt ihren Fall schildert und Fabian Gerhardt mit Prophetenstimme und erhobenen Armen die Gerichtsbarkeit der Inuit referiert, als wäre auch hierzulande die Praxis des von Schmähreden begleiteten Trommelwettbewerbs angeraten. Vielleicht jedoch sollte damit auch dokumentiert werden, dass es bloß jene Dinge sind, die uns gar nichts angehen, von denen in zusammenhängender Weise berichtet werden kann.
HAU 2, Berlin: Bis 18. Januar. Ab 7. Februar am schauspielhannover.
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