Von Georg Diez
19.05.2002 / Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung
,Die Mitte ist immer leer und voll zugleich: Gerhard Schröders Bundeskanzleramt mit einer Skulptur des Bildhauers Stephan Balkenhol.
Der eine Mann hat rote Backen, der andere hat einen Rucksack über der Schulter. Der eine Mann ist zwei Meter groß, der andere hat abgewetzte Schuhe. Der eine Mann zupft ab und zu an seiner grünen Krawatte, der andere zuckt manchmal nervös mit den Augen. Der eine Mann geht voran, der andere geht hinterher. Der Machtverwalter und der Machtausstatter. Ohne Leute wie Siegfried Kolbe wäre Ulrich Kelber gar nicht hier. Kolbe ist das Volk, Kelber der Volksvertreter. Ohne jemand wie Kelber ware Kolbe gar nicht hier. Der Fotosetzer und der Bundestagsabgeordnete. Zwei Bonner in Berlin. Im Meta-Dschungel der neuen Mitte.
Es ist eine merkwürdige Geschichte, die die beiden an diesem Morgen zusammengeführt hat, im Paul-Löbe-Haus vor der hellen Holztür, hinter der gerade der Umweltausschuß der SPD-Bundestagsfraktion tagt. Kolbe, der Anfang der sechziger Jahre aus der DDR flüchtete und danach beim „Vorwärts“-Verlag in Bonn arbeitete, bis ihn die Hauptstadtentscheidung für Berlin arbeitslos machte; und Kelber, der 2000 als junger SPD-Nachrücker aus seinem Wahlkreis in Bonn nach Berlin kam. Kolbe will lernen, wie jemand wie Kelber arbeitet, denn er will jemanden wie Kelber darstellen: jemanden, der das Volk repräsentieren soll in einer Institution, wie auch eine Würde hat, die Wolfgang Thierse nun persönlich zum Einsturz gebracht hat.
Würde? Ist Politik nicht vor allem Praxis? Aber wo alles Praxis geworden ist, in diesen Tagen der emphatisch Diesseitigen, da sucht die Politik eben das Symbolische. In der Angestelltenwelt der Berliner Republik vermischen sich kulturelle Gesichtslosigkeit und eine affirmationsgeschulte Öffentlichkeit mit einem diffusen Unbehagen an der eigenen Haltungslosigkeit – was dann zu eigenartigen kunstskeptischen Verbiegungen führt. Und der aktuelle Streit um das Theaterprojekt „Deutschland 2“ ist dafür ein besonders gutes Beispiel. „Don’t cry, work“, hat Rainald Goetz einmal in einem anderen Zusammenhang gesagt, aber ganz so einfach ist das eben nicht in unserer Mediendemokratie, wo machen Bewohner scheinbar Angst davor haben, was sie sehen, wenn sie in den Spiegel schauen – und deswegen am liebsten die Spiegel verbieten würden.
Aber was wäre zu sehen in diesem Spiegel? Nichts. Und was gibt es Erschreckenderes als einem Spiegel, aus dem niemand zurückschaut?
Es geht also um eine Zeit, die das Bild von sich selbst verloren hat, weil sich die Konturen verwischt haben, die dieses Bild kenntlich machen könnten. Ein Weichzeichnerland. Und was den 52jährigen Kolbe und den 34jährigen Kelber an diesem Morgen zusammengebracht hat, das ist vielleicht nur ein Missverständnis. Vielleicht ist es auch mehr. Vielleicht erzählt die Geschichte des Theaterprojekts „Deutschland 2“, das eine Theatergruppe mit Namen „Rimini Protokoll“ beim Festival Theater der Welt Ende Juli zeigen will und dem vom Bundeshausherrn Wolfgang Thierse untersagt wurde, dazu den ehemaligen Bonner Plenarsaal zu benutzen, vielleicht erzählt diese Geschichte etwas über den Zustand dieser Republik. Vielleicht erzählt sie etwas über jenes Politikprojekt, das Gerhard Schröder die neue Mitte nannte und das so inhaltsleer war, dass man nicht ahnen konnte, dass vier Jahre später der große Konsens jede Abweichung unmöglich gemacht hat. „Ich kann mich doch nicht dem Stoiber oder dem Westerwelle an den Hals werfen“, sagt Matthias Lilienthal, Programmdirektor von Theater der Welt. Was macht ein linker Künstler, der von der Linken nichts zu erwarten hat?
„Deutschland 2“ sollte so etwas werden wie Demokratie als Raubkopie. Eine Berliner Bundestagsdebatte, live über Kopfhörer nach Bonn übertragen, wo Laien, Bonner, normale Menschen um Sekunden versetzt die gleichen Sätze sagen wie ihre Vertreter in der Hauptstadt. Eine Art Bundestags-Karaoke, eine identische Kopie, die der Frage nachgehen wollte, was sich abbilden lässt, wenn das zu Kopierende zu verschwinden scheint. Was nämlich bleibt vom Politischen, wenn Politik nur noch Politik, repräsentiert, wenn eine Unterform der repressiven Toleranz Nonkonformismus unmöglich macht, von Opposition kein künstlerisches Projekt mehr ist? Und so führt diese Geschichte direkt zum Dilemma der Mitte: Wo Platz ist für alle, kann niemand dort nicht sein.
Die Mitte ist immer voll und leer zugleich. Das ist ihr Widerspruch. Sie ist nie Ort und immer Zustand, eine gesellschaftliche Fiktion, die sich ihre eigene Wirklichkeit schafft – und die Suche nach dieser konstruierten Mitte führt unweigerlich in eine Kreisbewegung oder die Nabelschau. Es ist das Paradox der Mitte, dass sie Zentrum ist und gleichzeitig allumfassend. Und das Ergebnis ist eine Art Magnetismus der Mitte, der in letzter Konsequenz eine Meinungslosigkeit befördert, in der seit neuestem die Beschwörung kanonischer und bildungsschwerer Momente wie ein Ersatz für eine fehlgeleitete und als obsolet verabschiedete Ironie erscheint – und dabei alles Elastische und Spielerische vertreibt. Die Konsequenz ist ein Konservatismus des Konventionellen.
Nun war es in den seltensten Fällen so, dass die sogenannte fortschrittliche Politik auch mit einer avancierten Ästhetik einherging, und für die Grünen etwas galt das wohl nur für die Zeit, als sie noch selbst ein Kulturereignis waren: bevor sie also zum Eigentum gewisser sozio-kultureller Zentren wurden, die sie als Prellbock gegen die großen Kulturtempel in Stellung brachten – ein Repräsentationskrampf, der bei der Alternativpartei allzu oft in eine falsch verstandene kulturelle Wohligkeit führte. Die umgekehrte Variante manches Ethnokitsches ist dann heute eine Art intellektueller Anzug mit Weste, der Fischer im Kopf, ein Staatskultur- und Repräsentationskulturreflex, der auf der einen Seite jemanden wie die Bundestagsvizepräsidentin Antje Vollmer von den Grünen beständig zwischen Christoph Schlingensief und Peter Stein hin und her flitzen lässt – und auf der anderen Seite und begründet in einer anderen politischen Sozialisation jemanden wie den Berliner PDS-Kultursenator Thomas Flierl zu einer gewissen Staatsopernverbiegung führt, die sich mit einer mangelnden Unterstützung kulturell avancierter Institutionen verbindet. Und die SPD? „Fehlende Dialogbereitschaft“ bei Wolfgang Thierse beklagt der Theater-der-Welt-Macher Matthias Lilienthal; und eine „ostdeutsche Pfarrershumorlosigkeit“.
Vor mehr als einem Jahr hatte Lilienthal an Thierse geschrieben, der hatte damals geantwortet, er könne „aufgrund vielfältiger politischer Inanspruchnahme“ bei der Verwirklichung des Projektes leider nicht behilflich sein – als es dann vor ein paar Wochen darum ging, ob das Kunstprojekt wie geplant im ehemaligen Bonner Plenarsaal stattfinden könne, kam die Absage des studierten Kulturwissenschaftlers Thierse (der in seiner Zeit im DDR-Kulturministerium eine Arbeit zur „Krise des Werkbegriffs“ verfasste). In einem zweiten Brief an Theater der Welt fehlt dann das Wort Würde, dafür äußert Thierse, drei Wochen nach dem Gepolter von Roland Koch im Bundesrat, die Sorge, „Deutschland 2“ könne „ein falsches Signal“ sein: durch das „unmittelbare Nachstellen parlamentarischen Handelns an historischem Ort“ könne, so Thierse, außerdem die eigentliche Plenardebatte in Berlin in den Hintergrund gedrängt werden. Während also Helgard Haug, Stefan Kaegi und Daniel Wetzel von „Rimini Protokoll“ weiter Hausfrauen, Soldaten, Juristen, Lehrerinnen, Werkzeugmacher und Friseusen casten, die am 27. Juni die 666 Parlamentarier des Bundestages darstellen sollen, fuhr Siegfried Kolbe trotzdem mal mit seinem kleinen, schwarzen Rucksack von Bonn nach Berlin, um sich die Darstellungsverschachtelung der neuen Republik aus der Nähe anzusehen.
„Sie werden aber mit Informationen bombardiert“, sagt Kolbe anerkennend zum Abgeordneten Kelber, der in der Bundeskantine eine Bulette isst, während er dem Mann zuhört, mit dem er sich zu einem Hintergrundgespräch über die neuen Medien verabredet hat. Kolbe, ein leiser, zurückhaltender Mann, will bei der Kopie-Debatte Cem Özdemir sein; Kelber ist ein munterer, aufstrebender Jungabgeordneter, der sich für eine Sache einsetzt, die vor allem daheim in Bonn für einiges Aufsehen sorgte. „Wovor haben Sie Angst, Herr Thierse“, fragte etwa der Bonner „Express“, der das Thema sogar auf seine Titelseite nahm. Dabei geht es bei dem ganzen Streit weniger um Herrn Thierses Angst oder Nichtangst und auch nicht darum, ob ein Bundestagspräsident entscheiden kann oder soll, was Kunst ist und was nicht; wenn das wirklich die Frage wäre, dann stünde es ernsthaft schlecht um das kulturelle Klima in diesem Land. Es geht eher um das, was Diedrich Diederichsen einmal den „Solipsismus des leitenden Angestellten“ genannt hat, eine merkwürdige Dynamik aus Glattheit und Meinungslosigkeit, die zu einer Suche nach der wahren Empfindung führt, die sich in einer Angst vor der eigenen Kopie äußert. Die Geste des Nonkonformismus, zu der auch die künstlerische Äußerung gehört, sieht Diederichsen „gefangen in einem Pathos der Erfahrung, das weder zum Begriff noch zur Politik findet und schießlich nur noch sich selbst erfährt“. Der freundliche Begriff der Mitte hat eine dunkle Unterseite, in deren Schatten sich Dissidenz schwer tut. Und wenn Kanzler Schröder mal wieder Schriftsteller zu sich ins Kanzleramt einlädt, dann träumt er vielleicht den alten Willy-Brandt-Traum von der kritischen Öffentlichkeit – und wird sich doch nicht ärgern, dass sich niemand meldet, der mal laut Nein sagt.
Abends sitzen Kolbe und Kelber dann noch auf ein Bier in der sogenannten „Stäv“, der Kneipe der Exil-Bonner in Berlin. Sie diktieren ein paar Kollegen von der Presse ihre Geschichte in den Notizblock und drehen ein bißchen an dem Nachrichten- und Meinungskarussel, auf das sie eigentlich aufspringen wollen. So ist das in der Berliner Republik: Die beiden sind die Pointe einer Geschichte, die es gar nicht gibt. Siegfried Kolbe zieht dann noch einmal los. Er will am Reichstag den Briefkasten suchen, um seinen B rief an Thierse loszuwerden.
GEORG DIEZ