Die Magie des Schachteltheaters

Stefan Kaegi schickt die Zuschauer auf einen Theater-Rundgang, der einen vom Teilnehmer zum Akteur macht

Von Steffen Becker

14.07.2020 / www.nachtkritik.de

Ich stelle mir vor, ich wäre Überlebender einer Apokalypse. Eine Naturkatastrophe hat die Zivilisation ausgelöscht und ich spaziere alleine durch ihre noch funktionierenden Kulissen. Wie würde ich mich fühlen? Befreit vom Störfaktor "Mitmenschen"? Depressiv im Angesicht der Einsamkeit? Stefan Kaegi von der Künstlergruppe Rimini Protokoll stellt die Besucher*innen im Schauspiel Stuttgart auf die diese Probe. Seit März ist der reguläre Spielbetrieb unterbrochen. Und auch Kaegi kann diesen dem darbenden Publikum nicht bieten. Zur Betäubung des Phantomschmerzes hat er ein Phantomtheater inszeniert. Haupt- und einziger Darsteller: Ich beziehungsweise der oder die Besucherin, die er im engen Fünf-Minuten-Takt auf die Reise durchs Gebäude schickt.

Schöner Schein

Ich bekomme Einweg-Handschuhe und einen IPod. Aus diesem spricht die strenge Stimme der Schauspielerin Sylvana Krappatsch. Sie stimmt mich ein auf die Mission: Ich bin die Kamera, ich schreibe mein eigenes Stück in mein Gedächtnis. Und ach ja, falls ich es noch nicht gemerkt habe: Wegen Corona "wird es nie mehr so sein wie früher". Warum nicht erschließt sich am Anfang noch nicht so ganz. Ich bin zunächst weniger Akteur als Teilnehmer einer Audioführung. Die gestrenge Stimme leitet mich durch die Türen und Flure, sagt mir genau, wohin ich meine imaginäre Kamera richten soll und lässt mich hinter die Kulissen blicken.

Ich sehe einer Vorrichtung beim Pumpen von Theaterblut zu. Überlege kurz, in der Werkstatt Lüsterklemmen zu klauen (habe aber rechtzeitig die Kameras bemerkt, die über den Parcours wachen). Sitze an einem Schminktisch und lese ein Post-it "Hey Schnulli. Toi Toi Toi vom Chef-Chef". Erschrecke mich im Kostümraum an einem Outfit, das sich unvermittelt aufbläst. Das ist technisch hervorragend gemacht.

Wenn Frau Krappatsch mich nicht zur Eile drängt, spielt der iPod zum jeweiligen Raum passende Unterhaltungen der Mitarbeiter*innen ein. Regisseur Kaegi hat dazu einen perfekten Raumklang aufnehmen lassen. Während ich im Probenraum sitze und sich eine Dramaturgin und ein Schauspieler über die ersten Arbeiten an einem Stück unterhalten, verschafft mir der Kopfhörer die Illusion, die beiden laufen tatsächlich hinter meinem Rücken entlang und erkunden den Raum für eine Szene. Ich bin alleine, fühle es anders und grusele mich darüber.

Im eigenen Stück

Ansonsten lerne ich zunächst eher oberflächliche Lektionen: Theater ist eine Welt des schönen Scheins. Im vor wenigen Jahren sanierten Schauspielhaus kann man im Foyer mit Rolf Benz-Kissen kuscheln. Aber hinter den Kulissen sieht der Bau mit seinen niedrigen Betonkrustendecken und welligen Linoleum-Fluren teilweise richtig schäbig aus. Oder: Theater ist ein so elitärer Betrieb, dass manchmal nicht mal die eigenen Angestellten mit der Kunst viel anfangen können. Im Malsaal spricht einer der Mitarbeiter davon, dass sie viel lieber realitätsnah arbeiten würden (an der Wand hängt ein Sissi-Porträt). Aber die Regisseure heute wollten heute ja vor allem schwarz lackierte Holzkisten…

Da ist die Hälfte der Zeit um und ich frage mich, ob noch was anderes kommt als ein interaktiver Rundgang. Aber schon dirigiert mich Frau Krappatsch in ein Kabuff, von dem aus ich einen anderen Besucher im Zuschauerraum betrachte. Wir sind gemeinsam allein und spielen in unseren jeweiligen Stücken mit. Vom Lichtstand aus erkenne ich das Modell aus dem Proberaum wieder.

Wollt ihr Illusion?

Die kleine Figur steht jetzt als realer Mitbesucher im Scheinwerferlicht auf der echten Bühne und verbeugt sich. In wenigen Augenblicken werde ich das tun. Ich höre die Anweisungen zum Öffnen der Durchgänge gleich mit anderen Ohren. Öffnen sich hier gleich auch die Türen zwischen Theater und Publikum? Fällt der Vorhang? Spoiler: Nein. Die strenge Frau Krappatsch und der eng getaktete Rhythmus lassen diesen Freiraum nicht zu. Ich stehe unter der Bühne auf dem Souffleur-Podest und schaue auf die Füße eines Bekannten. Ich will einen Staring-Contest, aber er reagiert nicht. An seiner Stelle bemerke ich den Grund: Die Scheinwerfer verhindern, dass ich im Souffleur-Kasten etwas erkenne. Aber auch sonst wird klar, dass die Antwort auf eine der Abschluss-Fragen des Audiowalks eindeutig ist – "wollen wir Illusionen oder wollen wir wissen, wie die Illusionen entstehen?"

Es mag erhebend sein, am Bühnenrand zu stehen und einer Schauspielerin zuzuhören, wie sich das für sie anfühlt, dieser Sog, den der Raum und das darin sitzende Publikum entwickeln. Ich bekomme eine Gänsehaut, als ich ins Scheinwerferlicht trete. Und merke doch an meiner Ungelenkigkeit, dass Künstler und Publikum zwei unterschiedliche Dimensionen sind. Das Publikum will seinen Platz in diesem Geschehen nicht tauschen.

Zuschauer und Akteur zugleich

Ich sitze am Ende im Zuschauerraum und applaudiere meinem Nachfolger auf der Bühne. Es ist ihm sichtlich unangenehm. Im Foyer soll ich ihm eine Nachricht schreiben. Ich pinsele "Ich habe für Sie geklatscht!“ Als er sie liest, schaut er nicht rüber. Als Regisseur gescheitert, steige ich in den Aufzug gen Ausgang. Aber egal: Ich erinnere mich an einen Moment im Archiv des Theaters. Ein Vertreter des deutschen Literaturarchivs spricht dort darüber, dass Theater bedeute, den Moment zu feiern. Und das tut die "Black Box". Sie entfacht eine Magie. Das Theater ist nicht da, aber Stefan Kaegi macht mit seiner Black Box das Beste draus. Oder besser: hätte das Beste draus gemacht, wenn der Virus nicht so unangenehme Langzeitfolgen hätte. Kurz vor der Premiere kündigten die Staatstheater Stuttgart an, in Kurzarbeit zu gehen. Die "Black Box" wird daher in dieser Spielzeit nur noch wenige Male begehbar sein.

 


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