Von Tom Mustroph
20.12.2019 / zitty.de
Rimini Protokoll sind eine der wichtigsten Künstlergruppierungen, die im Kontext des postdramatischen Theaters entstanden sind. Die Absolventen des Gießener Instituts für Angewandte Theaterwissenschaften feiern – wie viele Kolleg*innen – jetzt den 20. Jahrestag der Gründung ihres Labels. Weil sie so unglaublich produktiv sind – 135 Produktionen listet die Website – sind gleich fünf Berliner Häuser über mehrere Monate hinweg am Jubiläum beteiligt: Neben dem Stammhaus HAU noch Gorki Theater, Berliner Festspiele, Haus der Kulturen der Welt und Grips Theater. Den Auftakt machen das grandiose Multiplayer-Spektakel über den Waffenhandel „Situation Rooms” und die VR-Installation „Feast of Food” (ab 21. Dezember im HAU2) sowie das Remake der Show „100% Berlin“ (ab 9. Januar, HAU1).
Frau Haug, Herr Kaegi, Herr Wetzel, erinnern Sie sich, wie Sie sich vor 20 Jahren trafen?
Helgard Haug: Wir saßen auch an so einem großen Tisch wie jetzt. Es war bei mir zu Hause, ich war schon nach Berlin gezogen. Daniel war noch in Gießen und hatte dort Stefan kennengelernt, der gerade mit dem Studium begonnen hatte. Es wird immer erzählt, wir hätten zusammen studiert, aber das stimmt nur abstrakt.
Die Begründer von Rimini Protokoll haben also zwar alle in Gießen studiert, aber zeitversetzt – und sich erst in Berlin getroffen?
HH: Ja, das Stück damals hieß „Kreuzworträtsel Boxenstopp – Ein Stück als Formel-1- Rennen für vier Damen um die 80“. In Berlin haben wir an der Konzeption und der Bewerbung für ein Nachwuchsfestival in Frankfurt gebastelt.
Daniel Wetzel: Ich hatte dich angerufen, weil Stefan und ich über eine Idee sprachen, die wir vorher auch schon mal hatten. Wir wollten die Nachbarschaft von Alten-Wohnstift und progressivem Theaterhaus produktiv machen. Vielleicht passiert das viel zu selten, dass Leute, die merken, dass sie an den gleichen Dingen arbeiten, sich sagen: Lasst uns das mal gemeinsam probieren.
Gemeinsam war auch, nicht selbst auf die Bühne zu gehen, sondern „Experten des Alltags“ ein Setting für biografische Erzählungen zu geben. War das für Sie damals schon klar, dass Ihre Laufbahn mehr die der Konzepte und weniger der eigenen Performance werden würde? Oder hatten Sie zuvor auch selbst performt?
DW: Doch, doch! Stefan hatte sich schon mal eine Dauer-Wurst um den Kopf gewickelt, und Helgard und ich haben auch einiges auf der Bühne gemacht.
HH: Aber so richtig wohlgefühlt haben wir uns auf der Bühne nicht.
Stefan Kaegi: Wir haben uns damals darin gefunden, uns nicht so sehr mit uns selbst zu beschäftigen, wie das andere Gruppen in Gießen damals gemacht haben. Wir waren auf der gegenüberliegenden Skala. Für „Kreuzworträtsel Boxenstopp“ haben wir Damen um die 80 Jahre auf die Bühne geholt und die mit unserer Generation konfrontiert. Dadurch entsteht eine Spannung. Es war die Lust des Blicks in eine unbekannte Welt.
In Berlin, jetzt zum Jubiläum, gibt es den Blick auf etwas Bekanntes, ein Remake der Show „100% Berlin“. Was hat sich verändert, im Stück selbst, aber auch welche Veränderungen in der Stadt seit der Premiere im Jahre 2008 sind eingeflossen in die neue Produktion?
HH: Wir haben zunächst versucht, die 100 Leute wieder zu bekommen, die 2008 dabei waren. Bei dem Stück geht es ja darum, dass 100 Leute nach fünf statistischen Kategorien die Stadt repräsentieren. Bei der Recherche merkte man, wieviel in zwölf Jahren passiert ist: Es haben sich Familien gebildet und sind wieder zerbrochen, Menschen sind um- oder weggezogen, einige sind nun Pflegefälle oder leider gar verstorben, andere gar nicht mehr auffindbar. 42 aus der alten Besetzung machen jetzt wieder mit.
Was hat sich in der Stadt statistisch verändert seit 2008?
SK: Es gibt tatsächlich 300.000 Einwohner mehr, und insgesamt 20 Prozent der Berliner haben einem ausländischen Pass, vor 12 Jahren waren das noch 10 Prozent. Was sich gar nicht verändert hat, ist, dass die Berliner gern schlecht über ihre Stadt sprechen. Wir waren inzwischen in vielen Städten mit diesem Projekt. Und dort waren die Leute oft darauf trainiert, zu sagen, wie schön ihre Stadt ist, wie toll es ist, darin zu leben.
Nur der Berliner hat seine Mecker- und Grummelmentalität bewahrt?
DW: Berliner zu sein bedeutet doch, zusammen zu meckern. Das erzeugt so eine Reibungswärme beim Beschweren, die der Berliner genießt.
Wie ist das eigentlich bei Ihnen: Wie haben Sie gemeinsam die 20 Jahre zusammen überstanden?
HH: Das Geheimnis ist das Rezept der „freien Liebe“. Wir arbeiten ja in unterschiedlichen Konstellationen zusammen und an unterschiedlichen Orten. Ich glaube, wenn wir damals an diesem Tisch gesagt hätten, ab jetzt machen wir alle Projekte zu dritt, dann würden wir jetzt nicht hier zusammensitzen.
Sie haben zusammen und auch getrennt eine unglaublich scheinende Anzahl an Themen bearbeitet und zahlreiche verschiedene Formate kreiert. Es gab ein Call Center- Stück, Audiowalks, eine Simulation des Bundestags, Sie operierten mit Heuschrecken und jüngst mit einem Roboter, befragten den Tod und das Sterben und arbeiteten sich am „Kapital“ von Marx und an „Mein Kampf“ von Hitler ab. Bleibt da eigentlich noch etwas übrig für die Zukunft?
SK: Es wird eine Beschäftigung mit Tanz geben, nicht so sehr mit dem Kunsttanz, sondern den Massentanzbewegungen. Wie haben sich die zusammen mit der elektronischen Musik entwickelt und wie haben sich parallel dazu Computerprogrammierungsformen verändert? Wir beschäftigen uns aber auch mit der Mobilität, die das freie Theater ja immer gewollt und auch gebraucht hat, und die uns jetzt plötzlich so deutlich als Problem entgegensteht, wenn man über den Klimawandel nachdenkt. Da sind wir am Tüfteln, ob es möglich ist, ein Stück zu machen, bei dem niemand reist, und was gerade deshalb ganz ortspezifisch und sehr theatral werden kann.
HH: Ich beschäftige mich für ein Hörspiel gerade mit der Frage, wie Nationen ihren Geburtstag feiern. Vielleicht färbt da ja das eigene Jubiläum ab.
Staaten feiern ihre Jubiläen ja oft mit Militärparaden. Können wir also noch eine Rimini-Protokoll-Militärparade erwarten?
HH: (lacht) Genau. Das würde ich gleich mal den Kollegen vorschlagen.
SK: Hm, das wäre doch mal ein neues Feld. Ich wittere Aufträge.