Von Johannes Breckner
17.11.2015 / Wiesbadener Kurier
MANNHEIM - Ende des Jahres läuft der Urheberschutz für „Mein Kampf“ aus. Sollte das programmatische Machwerk Adolf Hitlers in Deutschland erlaubt werden? Damit hat sich das Regie-Kollektiv „Rimini-Protokoll“ beschäftigt.
Eltern freuen sich, wenn Kinder ihnen zu Weihnachten etwas basteln. Aber die Mutter von Sibylla Flügge dürfte ziemlich erstaunt gewesen sein über das Päckchen, das die Tochter unter den Baum legte. Die Fünfzehnjährige hatte Hitlers „Mein Kampf“ nicht nur gelesen, sondern eine eigene Fassung zusammengekürzt, säuberlich abgetippt und mit einem hübsch gezeichneten Deckblatt versehen. Und das im Haushalt eines Pfarrers, der in seiner Gemeinde als der „rote Rufus“ galt. Aus dem Mädchen wurde trotzdem etwas. Sibylla Flügge studierte Jura, ging in die Wissenschaft, ist heute Professorin mit dem Spezialgebiet „Recht der Frau“. Und an manchen Abenden ist sie auch Schauspielerin. Denn das Regie-Kollektiv „Rimini-Protokoll“ hat für seine theatralischen Recherchen „Adolf Hitler: Mein Kampf Band eins und zwei“ wieder Menschen auf die Bühne geholt, die eine besondere Beziehung zum Thema haben. Die junge Juristin Anna Gilsbach zum Beispiel, die sich auskennt mit dem Urheberrecht und den Paragrafen der Volksverhetzung, den Weimarer Buchrestaurator Matthias Hageböck, den blinden Performer Christian Spremberg, den Musiker Volkan Türeli, der zum Wegebereiter des türkischen Hip-Hop in Deutschland wurde und gegen rechten Hass ansingt. Und den Anwalt Alon Kraus aus Tel Aviv, der gerne junge Deutsche bei sich übernachten lässt und Frauen im Café in Gespräche über den Nationalsozialismus verwickelt. Der Eichmann-Ankläger war sein berufliches Vorbild, die Lektüre von „Mein Kampf“ hat ihm beim Studium geholfen, die Lektüre gab ihm Kraft, drei unerledigte Seminararbeiten fertigzuschreiben.
So ungewöhnlich sind die Zugänge zu Hitlers Machwerk. Der Zeitpunkt der Inszenierung, die beim Kunstfest Weimar Premiere hatte und als Koproduktion am Mannheimer Nationaltheater zu Gast war, ist kein Zufall: Ende dieses Jahres läuft das Urheberrecht aus, das beim Freistaat Bayern liegt. Ob das Buch anschließend verbreitet werden darf, wird gewiss die Gerichte beschäftigen, auch die Expertin Anna Gilsbach kann es nicht genau vorhersagen.
Erzählung einer Recherche
Um zu erzählen, worum es bei dieser Frage überhaupt geht, bringen die Regisseure Helgard Haug und Daniel Wetzel ihre Akteure miteinander ins Spiel. Das ist keine große Schauspielkunst, aber das Thema dieses Abends ist ja auch die bebilderte Erzählung der Recherche, die das Ensemble gemeinsam unternommen hat. Dabei kamen erstaunlich viele Exemplare des Buches zum Vorschein. Hitler war auch ein Bestsellerautor, der durch seine frühe Kampfschrift zum Tantiemen-Millionär wurde. Über zwölf Millionen Exemplare wurden bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs gedruckt, später gab es illegale Ausgaben in Deutschland und Übersetzungen in viele andere Sprachen, auch Hebräisch.
Der Theaterabend spürt in vielen kurzen Szenen der Frage nach, was die Faszination dieses Buches ausmacht, von dem immer behauptet wird, es sei zwar besessen, aber nicht gelesen worden. Mit Analysen hält sich der Abend zurück. Rimini Protokoll will nicht belehren, sondern schickt das Publikum gemeinsam mit den Akteuren auf eine Gedankenreise. Und es ist den Theatermachern kein bisschen peinlich, wenn sie die Neugier wecken, sich selbst mit diesem Buch auseinanderzusetzen. Kurz vor dem Ablauf der Urheber-Schutzfrist wirbt dieser Abend für Gelassenheit: Die Lektüre von „Mein Kampf“ kann helfen, Geschichte zu verstehen. Neue Nazis wird sie nicht rekrutieren.