Die grosse Wanderung

Von Deutschland nach Russland und zurück Stefan Kaegis neues Stück widmet sich den Wegen und Umwegen historischer Auswanderung und postmoderner Migration. Eine Hauptrolle spielt das Öl.

Von Barbara Villiger Heilig

21.06.2011 / Neue Zürcher Zeitung

Neuerdings spricht jedermann vom postmigrantischen Theater zum Beispiel in Berlin, wo Shermin Langhoff, als Kind mit ihrer Mutter von Bursa nach Deutschland ausgewandert, das Ballhaus Naunynstrasse leitet und damit Furore macht; oder in Wien, wo sie zusammen mit Markus Hinterhäuser bald die Festwochen übernehmen wird. Doch um Migration dreht sich Theater schon viel länger, das in globalisierten Zeiten selbst wieder zu wandern begann wie früher, als die Truppen von Ort zu Ort zogen; und das heute produktionstechnisch mehr und mehr global vernetzt ist. Auch inhaltlich befasst es sich gern mit dem Thema.

Kasachstan, Deutschland, Österreich

Der Schweizer Stefan Kaegi, einerseits Mitglied des dreiköpfigen Theaterkollektivs Rimini Protokoll, anderseits in individuellen künstlerischen Zusammenhängen tätig, hat mit seiner jüngsten Arbeit die grosse Wanderung zurückverfolgt in der Geschichte, allerdings von der Gegenwart aus. «Bodenprobe Kasachstan» heisst das Stück, für welches er seit einem Jahr Recherchen betrieb, in der kasachischen wie in der deutschen Hauptstadt. Dazwischen behielt er die sich verändernde Restwelt im Auge, weil seine von Festival zu Festival migrierenden älteren Produktionen eigentlich immer works in progress sind «Radio Muezzin» etwa, einst in Kairo entstanden, kann nicht so tun, als habe kein arabischer Frühling stattgefunden.

Und von Zürich aus, wo er mit der Argentinierin Lola Arias bei den Festspielen gerade die letzte von vier Folgen ihrer «Ciudades paralelas» kuratiert, ist Stefan Kaegi auch nach Wien geflogen für die Wiederaufnahme der am Berliner HAU (Hebbel am Ufer) produzierten «Bodenprobe Kasachstan». Denn die österreichischen Verwicklungen mit der kasachischen Rowdy-Politik tauchen gerade jetzt wieder in den Medien auf. Nicht nur, weil der Ex-Kanzler Alfred Gusenbauer seit kurzem als Berater für den kasachischen Dauerpräsidenten Nasarbajew auftritt. Sondern auch, weil Rakhat Aliyev, zwangsgeschiedener Ex-Schwiegersohn des Präsidenten und ehemaliger Botschafter in Österreich, hier wartet: Ein Wiener Gericht hat soeben den zweiten Auslieferungsantrag aus seiner Heimat abgelehnt, wo ihm zwanzig Jahre Haft drohen. Diese Revolverstory, deren amerikanische Implikationen unlängst die «New York Times» à jour brachte, tönt Kaegi aber lediglich an. Auch die Schweizer Banken, auf denen anscheinend Nasarbajews Petrodollars lagern, streift er bloss.

Kasachstan, das bedeutet heute: Öl. Deshalb beginnt als erster von fünf für das Stück gecasteten «Experten des Alltags» ein Bohrtechniker zu sprechen. Der Ostdeutsche Gerd Baumann alle auftretenden Personen figurieren mit ihren zivilen Namen auf dem Besetzungszettel spart nicht mit Informationen. Als typisch professionell deformierter Fachmann unterläuft er die komplexesten technologischen Sachverhalte mit dem schönen Nachsatz: «Im Prinzip ist es ganz einfach.» Doch das Laufband, auf dem er stetig geht, zeigt an, was seine Schritte an Energie produzieren, und stellt damit die abstrakten Öl-Zahlen in eine menschliche Relation. So funktioniert das ganze Stück: Theoretisches wird praktisch vorgeführt und, vor allem, von Menschen in Lebensmaterie übersetzt.

Der Rohstoff als Denkstoff

Gerd hat beim Beackern der Ölfelder anständig Geld verdient. Freilich fliesst das schwarze Gold ungleichmässig ins Land. Nicht einmal das Wasser floss, als Heinrich Wiebe noch als Tanklastwagenfahrer im Permafrost unterwegs war. Heute lebt er in einem Plattenbau der ehemaligen DDR einer jener rund 850 000 kasachischen Russlanddeutschen, die in der Folge von Helmuth Kohls Regelung als Aussiedler dorthin zurückkamen, von wo ihre Vorfahren unter Katharina der Grossen ausgewandert waren. Würde Heinrich seine Familiengeschichte, allen Kriegswirren, Deportationen und Waisenhausaufenthalten zum Trotz, nicht derart trocken-verschmitzt und sogar stolz vortragen, müsste sie einem das Herz zerreissen. Er hingegen spaltet Holz beim Résumé ein Axthieb für jede Trennung und verbindet solche Vergangenheitsbewältigung mit dem Blick nach vorn: Nun, da das boomende Kasachstan Aussiedler zurücklockt, möchte er die Flugkosten, wenn überhaupt, lieber in eine USA-Reise investieren.

Von Treibstoff ist oft die Rede an diesem fein verflochtenen, von verschiedenen Seiten her aufgefädelten Abend, der die Grosse Historie auf persönliche Geschichten verteilt. Nurlan Dussali, waschechter Kasache, hat sich in Deutschland niedergelassen und dort zuerst Rohstoffe an der Börse gehandelt. Unterdessen ist er Energieberater. Seine Grosseltern grüssen ihn von der grandios bespielten Videokulisse (Chris Kondek), dank der das ferne, weite Steppenland mit Eis, Schnee oder Matsch im Wiener Museumsquartier Einzug hält. Nurlan zaubert auch ein Miniaturmodell von Astana hervor, glitzernd wie eine Assemblage aus Parfumflakons, und schon erscheint die nigelnagelneue Hauptstadt im Hintergrund auf dem Screen.

Astana sei wie Dubai, sagt Helene Simkin, deren tadschikische Vergangenheit inklusive blutigen Bürgerkriegs greifbarer ist als die elsässische Vorvergangenheit der Familie. Auf der Bühne singt Helene traditionelle Volksweisen mit orientalischem Einschlag. Sonst singt sie als Variété-Tänzerin Schlager vor US-Soldaten in Baumholder, während Elena Panibratowa immer noch davon träumt und dafür trainiert , Kosmonautin zu werden. In der Nähe von Baikonur aufgewachsen, wo die Raketen in den Himmel stiegen, ist Elena nach der Remigration dann am Boden geblieben beim Flughafenpersonal in Hannover, bis sie den Job verlor. Sie hofft auf sinkende Kerosinpreise.

Und wie viel Treibstoff verbraucht, summa summarum, der Frequent Flyer Stefan Kaegi als theatralischer Global Player, um Weltbühne und Bühnenwelt kurzzuschliessen? Wer weiss. Sein Doku-Kunststück jedenfalls verwandelt Öl in erneuerbare Energie es fördert das Denken. Nachhaltig.

 


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Bodenprobe Kasachstan