Von Peter von Becker
04.03.2018 / Tagesspiegel
„Warum nicht das Besondere wagen?“ Das steht auf dem Personalbogen mit der Aufforderung: „Bewerben Sie sich beim deutschen Auslandsgeheimdienst BND“. Die Papiere mit den auszufüllenden Angaben zur Person tragen die Adresse „Bundesnachrichtendienst / Personalgewinnung / Postfach 120 / 82042 Pullach im Isartal“.
Personalgewinnung, welch schöner Abteilungstitel! Auch alles Übrige ist korrekt, obwohl wir jetzt im Neuen Museum auf der Berliner Museumsinsel sind und die neue Zentrale des BND an der Chausseestraße nur etwa zwei Kilometer Luftlinie entfernt liegt. Aber das waldige Pullach bei München bleibt mit einigen Abteilungen zunächst erhalten, die 4500 künftigen Mitarbeiter des Berliner Hauptquartiers ziehen erst nach und nach in den riesig weiß blitzenden, vom Architekten Jan Kleihues entworfenen Gebäudekomplex.
Auch die Ortsangabe Neues Museum stimmt. Denn dort spielt „Top Secret International“, Untertitel „Staat 1“. Im Laufe der anderthalbstündigen Performance, die jeder Besucher – ausgestattet mit Kopfhörern und einem Notizbuch mit eingebautem Sender – einzeln im Viertelstundentakt startet, wird man zur Einführung in die Welt der (staatstragenden) Geheimdienste quasi konspirativ zwischen den übrigen, ahnungslosen Museumsgängern durch Teile des Hauses gelotst. Vor bestimmte Objekte, etwa in der ägyptischen Sammlung zu den Skulpturen der Schreiber und Beamten der Pharaonen, die ihrerseits als frühe Staats-Kundschafter und imaginäre Verbündete oder Gegner vorgestellt werden. Auch Nofretete kann da eine Rolle spielen.
Helgard Kim Haug, Stefan Kaegi und Daniel Wetzel, die drei Köpfe des von Berlin aus weltweit operierenden Theaterlabors Rimini Protokoll, haben in den vergangenen zweieinhalb Jahren zusammen mit den Münchner Kammerspielen, dem Schauspielhaus Düsseldorf, dem Staatsschauspiel Dresden und dem Schauspielhaus Zürich das performative Superprojekt „Staat 1 - 4“ entwickelt. Nun führt das zusammen mit dem Goethe-Institut koproduzierende Haus der Kulturen der Welt (HKW) die vier Inszenierungen in Berlin erstmals zusammen.
Man wird zum Azubi des Bundesnachrichtendienstes
Jede für sich selbstständige „Staat“-Sequenz spielt in einem eigenen Raum: „Staat 2 - 4“ in den Ausstellungshallen und im großen Saal des HKW, der erste Teil mit der insgesamt längsten Laufzeit (bis zum 25. März) im Neuen Museum. Und weil auch hier wieder die von Rimini als Mitspieler so ingeniös erfundenen und immer wieder neu zu findenden „Experten des Alltags“ ihren Part haben, hört man als prospektiver Azubi des Bundesnachrichtendienstes im Kopfhörer gelegentlich die Stimmen realer (Ex-)Agenten oder auch von Gerhard Schindler, dem ehemaligen BND-Chef. Er bekennt: „Es gibt keinen sauberen Geheimdienst. Man muss lügen, betrügen und im Ausland Gesetze brechen.“
Wer hätte das wohl anders erwartet? Interessanter ist darum die Auskunft von Avi Primor. Der frühere israelische Botschafter in Deutschland erläutert, dass alle Botschaften auch Agenten mit Diplomatenpässen akkreditiert haben. Das gelte natürlich auch für Israel und den Mossad in Berlin. Aber diese Agenten sollten die Gesetze des Gastlandes respektieren und heikle Operationen nur jeweils in Nachbarländern ausführen, ohne dass die Botschafter dort darüber informiert seien. So werde, kurios genug, wechselseitig die Form gewahrt, und er selbst habe sich als Chefdiplomat immer mit gutem Gewissen auf sein eigenes Unwissen berufen können.
Gelungene Diplomatie - heikle Operationen nur im Nachbarland ausführen
Allein solche Infos machen die ins Szenische übersetzten Forschungen von Rimini Protokoll jedes Mal erlebenswert. Auch wenn „das System“, das die Besucher hier aus dem Off durchs Museum dirigiert und unverhofft auch mal mit anderen Teilnehmern kommunizieren lässt, tröstlicherweise nicht unfehlbar ist. Mitunter kriegt man Fragen gestellt, und je nach Antwort wird über computerisierte Kopfhöreransagen der weitere Parcour bestimmt. Meine akustische Systemadministratorin wirkte zunächst überrascht, dass auf die Frage, ob ich, unter gewissen Umständen, für wichtige, aber „illegal“ erworbene Informationen auch Geld bezahlen würde, meine Antwort „Ja“ war. Später will man dann wissen, ob ich bereit sei, Mails oder Dokumente im Rechner eines persönlichen Partners bei Bedarf auch ohne dessen Wissen zu lesen.
Als ich dies verneine, nimmt die Leitzentrale das dennoch als „Ja“. Womöglich wird mir deswegen am Ende bei der Abgabe von Kopfhörer und Sender die Eignung zum Spion attestiert und dazu der erwähnte BND-Bewerbungsbogen überreicht. Protest zwecklos. Es ist ja nur: ein Spiel.
Das zweitälteste Gewerbe der Welt
Die Rimini-Macher sagen: „Wir porträtieren den Staat, wie er sich transformiert. Er entwickelt sich hin zur Postdemokratie.“ Und „deshalb sind das keine Gegensätze: Staat und Postdemokratie“. Freilich ließe sich überlegen, warum die Ouvertüre für eine Welt der Überwachung, von Big Data und allmächtigen Globalkonzernen gerade im Museum stattfindet (in München war es die Antikensammlung der Glyptothek). Über Kopfhörer, in denen neben den Experten auch die Stimmen der Schauspieler*innen Peter Brombacher und Wiebke Puls zu hören sind, erfahren wir nun einigermaßen schlagend: Es handle sich beim Spionieren „um das zweitälteste Gewerbe der Welt.“
Im dritten Teil mit dem schönen Titel „Träumende Kollektive. Tastende Schafe“ geht es um die direkte Demokratie. Von den antiken Anfängen bis in die nicht mehr allzu ferne Zukunft. In der kleineren Ausstellungshalle im Untergeschoss des HKW werden für diesen „Staat 3“ mobile Sitzwürfel und handygroße Displays verteilt, auf denen immer neue Fragen einer gewissen Iris per Fingertipp zu beantworten sind. Mit Iris, dem Anagramm von Siri, sind wir im März 2048, sie ist die zentrale Recheninstanz, die das Resultat aller Antworten in einen (mehrheitlichen) Gesamtwillen übersetzt. „Liquide Demokratie“ auf der Basis ständiger Demoskopie.
Das Publikum zeigt Skepsis gegenüber der smarten Welt
Gleichzeitig aber herrscht noch die Gegenwart in Gestalt des Athener Theatermachers Kostis Kallivretakis sowie seines in Köln geborenen griechisch-iranischen Kollegen Vassilis Koukalani, der schon in Filmen von Theo Angelopoulos gespielt und Volker Ludwigs Grips-Theaterstücke in Griechenland inszeniert hat. Beide sind wie im antiken Drama Chorführer, die Zuschauer als Repräsentanten des Athener/Berliner Volks. Der Chor - am Fuß der Akropolis oder hier im Spree Valley. Gestern, heute, morgen.
Manches wirkt etwas botschafthaft gewollt (die Kritik an der EU-Griechenland-Politik), manches, was das Publikum zu den „tastenden Schafen“ macht, auch digital-demokratisch naiv. Doch interessant ist: Das junge, bei der öffentlichen Generalprobe in Berlin internationale Publikum, darunter Kuratorinnen aus Barcelona oder Soziologen aus Mailand, reagiert in der Mehrheit eher wertkonservativ. Die an Wandprojektionen ablesbaren Antworten zu Künstlicher Intelligenz, Demokratie und Datensammeln ergaben: viel Skepsis gegenüber der allzu smarten Welt. Und keine Macht den neuen Technologien über den alten Menschen!
Eine dramaturgisch-choreografische Meisterleistung ist das „Gesellschaftsmodell Großbaustelle“ als „Staat 3“. Gut 200 Zuschauer bewegen sich mit wechselnden Helmen, Kopfhörern und Experten-Guides in einer mächtigen Szenerie aus Containern, Maschinen, Tribünen, Sandhügel, Konferenzraum und Multimediacenter.
Der BER und die Entrauchungsanlageneues
Als eben noch dörfliche Wanderarbeiter erwachen wir unter der Leitung einer chinesischen Tänzerin plötzlich im bauboomenden Beijing, verwandeln uns in eine Investorengruppe bei einem Meeting in Düsseldorf, lernen von einem Stadtforscher Abgründiges über Singapur oder urbanistische Alternativen für Addis Abeba, erfahren von einem durch Techniken eines früheren Leibwächters von Elvis Presley auch kampfsporterprobten Baurechtsanwalt, wie Firmen bei öffentlichen Aufträgen erst mit dem billigsten Angebot reüssieren und dann durch „intelligentes Nachtragsmanagement“ bei Bauverlängerungen kassieren.
Was folgt, ist auf einer Videoleinwand 2014 die Pressekonferenz des damaligen BER-Flughafendirektors Horst Mehdorn zusammen mit Klaus Wowereit in Berlin, die wegen der angeblich fehlerhaften Entrauchungsanlage den verantwortlichen Ingenieur Alfredo di Mauro öffentlich kündigen und eine neue, schnell funktionierende Anlage verheißen.
Vor uns aber steht jetzt Herr di Mauro in persona. Und erklärt, dass seine Entrauchungsanlage „nie getestet worden ist“. Seit Jahren prozessiere er deshalb als Opfer von Politik und Missmanagement gegen den BER. Wenn das stimmt, was di Mauro hier (offenbar juristisch abgesichert) behauptet, dann ist das viel mehr als Theater. Und man kann gespannt sein auf das Finale: „Weltzustand Davos. Staat 4“. Ab 8. März wird sich die große Bühne des HKW für Riminis theatralen Weltwirtschaftsgipfel dann in eine kunstschneebedeckte Arena verwandeln