Von Peter Michalzik
24.09.2007 / Frankfurter Rundschau
Bei den RAF-Wochen am Staatstheater Stuttgart macht Rimini Protokoll die Auswirkungen der Zahnspendenaffäre von 1977 zum Gegenstand einer szenischen Lesung.
Der Beitrag des südwestdeutschen Menschen zur Geschichte des Terrorismus ist bekanntermaßen erheblich: Deutlich überproportional ist die Zahl der gewaltbereiten Überzeugungstäter aus der ersten und zweiten Generation, die von hier kommen, allen voran Gudrun Ensslin. Der so genannte Hochsicherheitstrakt von Stammheim steht in den schwäbischen Kernlanden, dort wo der Terrorismus in seiner deutschen Ausprägung also erfunden und beerdigt wurde. Und sogar das örtliche Theater war damals mit der berühmten Zahnspenden-Affäre für Ensslin und andere Gefangene beteiligt.
Das Staatstheater Stuttgart hat nun dem Genius Loci umfassend Rechnung getragen. An diesem Wochenende begann die erste von drei Projektwochen unter dem trefflichen Titel "Endstation Stammheim" - ein auch für RAF-Ge- und Übersättigte interessantes, ungemein vielfältiges Programm.
Zunächst haben sich die Erfinder des neuen Theater-Realismus von Rimini-Protokoll - unter der ebenfalls höchst treffenden Überschrift "Peymannbeschimpfung. Ein Training" - einer umfassenden Recherche vor Ort unterzogen. Ausgangspunkt ist die Zahnspendengeschichte von 1977. Der damalige Intendant Claus Peymann reagierte damals auf eine Zuschrift der Mutter von Gudrun Ensslin mit der Bitte um Unterstützung für die Zahnbehandlung ihrer Tochter und anderer Gefangener, indem er 100 Mark überwies und einen Zettel an das Schwarze Brett hängen ließ, dass man spenden könne. Die Presse (v.a. Bild), die Politik (v.a. Späth und Filbinger) und die Bevölkerung (v.a. aus Stuttgart und Umgebung) reagierte darauf gemein bis gemeingefährlich.
Rimini-Protokoll (in diesem Fall Helgard Haug und Daniel Wetzel) hat die vielen beleidigenden Briefe an Peymann durchforstet, das am liebsten in der Anrede verwendete Wort ist wohl "Schwein". Der heutige Intendant des Berliner Ensemble hat die Briefe jetzt vor laufender Kamera vorgelesen, das Ergebnis wurde in Stuttgart gezeigt. Ein Ärgernis, dass Peymann heute kein Wort von damals lesen kann, ohne es als Blatt an seinem revolutionärnarzisstischen Lorbeerkranz zu sehen: Eine trockene Lektüre der Schimpftiraden hätte die damalige Schmutzkampagne und Gemütslage sicher besser zu fassen bekommen.
Trotzdem hat das "Training" von Rimini-Protokoll dank der zahlreichen Vertreter des Turnvereins Stammheim etwas Großartiges. Diverse Tanzabteilungen von HipHop bis Paartanz, die Männer vom Tischtennis, die Yogadamen und Wirbelsäulengymnastiker geben auf der Bühne Kostproben ihrer Arbeit und erzählen, was beim Joggen um die JVA herum alles passiert. Und der Rüstmeister des Staatstheaters rekonstruiert in breitem lokalem Dialekt die Geschichte der Zahnspendenaffäre. Alle bis auf Peymann arbeiten sie von verschiedenen Seiten an einer Vergegenwärtigung, die in dem schroffen Nebeneinander von schäumendem Hass, JVA-Mauern und der guten Laune des TV Stammheim wahrscheinlich kongenial ist: Da prallen deutscher Alltag und Wahnsinn aufeinander, und Stammheim steht wieder, normal, banal, mental, vor uns.
Beiläufiger, entspannter und witziger geht René Pollesch in Stuttgart an die RAF ran. "Liebe ist kälter als das Kapital" ist das erste Mal, dass er so etwas wie eine Auftragsarbeit angenommen hat. Um es zunächst mal einfach zu sagen: Pollesch kritisiert hier den heutigen, vor allem medialen Umgang mit der RAF. Wo alles, persönliche Verzweiflung genauso wie soziale Umstände und die Terroristen, "neutralisiert" wird, indem es Teil einer persönlichen, familiären, pathologischen Gefühlsgeschichte wird, gibt es keine Auseinandersetzung mit der Geschichte. Es ist die gleiche Dynamik wie in einer noch größeren Frage, die in Polleschs Arbeit fast immer drin steckt: Weil das Großexperiment Kommunismus nach landläufiger Meinung fehlgeschlagen ist, glaubt ihr wirklich, dass sich auch alle Fragen erledigt haben, die er an die Gesellschaft und die Verhältnisse gestellt hat?
Verpackt ist "Liebe ist kälter als das Kapital" als Komödie, die sich um eine Filmszene von John Cassavetes dreht, wo es darum geht, dass sich eine Schauspielerin nicht wie im Drehbuch vorgeschrieben ohrfeigen lassen möchte. In einer plüschigen Kulissenbühne mit Geldautomat wird die Szene immer und immer wieder durchgespielt wie eine Schallplatte mit Sprung.
Das ist, wie der ganze Abend, ein Satyrspiel der Dekonstruktion. Die dekonstruktive Zersetzung hat inzwischen eigene theatrale, ziemlich feststehende Schleifen und Loops hervorgebracht, die hier wieder und wieder durchgespielt werden und die erstaunlich nah an der Klamotte sind. Mit seinen Film-, Theater- und Realitätsverlustspielen gibt Pollesch deswegen so etwas wie Komödienunterricht. "Mein Leben ist zum Zeigen verdammt. Ich kann keine Realität mehr sehen", sagt man hier, wenn man von der Bühne abgeht, dabei direkt im Filmset landet und über irgendetwas stolpert.
Schauspiel Stuttgart: Projektwoche I bis 30. September, Projektwoche II vom 6.-14. Oktober, Projektwoche III vom 14.-18. November