Von SYLVIA STAUDE
03.04.2008 / FR-online
Rimini Protokoll, das ist ein Synonym geworden fürs Suchen - und Finden. Die drei Rimini-Theaterleute (Helgard Haug, Stefan Kaegi, Daniel Wetzel) sind vor allem auch Rechercheure, und wenn sie wieder ein spannendes, kurioses Stück Wirklichkeit gefunden haben, bereiten sie uns ihren Fund auf, zu einer Inszenierung, Performance, einem Tête-à-tête. Sie ermöglichen uns Erfahrungen, die wir so ähnlich auch ohne sie machen könnten - aber dank ihnen haben wir viel weniger Mühe. Und viel mehr Spaß.
Rimini Protokoll verbinden
Alle reden von Call Centern und den dort ausgebeuteten und/oder uns die Jobs wegnehmenden Mitarbeitern. Die, wie man liest, auch noch so tun, als wären sie, zum Beispiel, in den USA. Rimini Protokoll tun jetzt auch was. Indem sie uns, so wir eine Karte kaufen, im wahrsten Sinn des Worts verbinden mit einem Menschen in einem Call Center - live, in Indien, Kalkutta. Weswegen diese Zwei-Personen-Performance (Sie und der Inder/die Inderin) den Titel trägt: "Call Cutta in a Box".
Groß ist der Raum nicht (aber auch keine "Box"), in den in einem Bürohaus in Mannheim geführt wird,
wer "Call Cutta" gebucht hat. Man tritt ein, da klingelt auch schon das Telefon.
Zwanzig Call-Center-Mitarbeiter von "Descon Limited" sind in Kalkutta gecastet worden, es gibt einen Dienstplan für die Aufführungs-Tage. Jetzt, wenige Minuten nach 18 Uhr, ist Sagnik Chakraborty dran und
fragt, ob er wohl mit Sylvia Staude spricht? Wie es bei Telefongesprächen mit Fremden wie Freunden oft geschieht, sprechen wir als erstes übers Wetter. Wie ist es gerade in Mannheim? Der Himmel grau, Wolken, ah ja. Schon dunkel? Nein. Und in Kalkutta? Schwül? Sehr schwül. Aber Sagnik sitzt im Kühlen, und ist schon deswegen gern im Büro, weil es dort kühl ist. Wir stellen uns ein wenig mehr vor, wir gehen zum Du über, er erfährt, wie alt ich bin, ich soll raten, wie alt er ist, und mache ihn aufgrund seiner Stimme viel älter als 26. Das findet er aber gut, und erklärt: Wer am Telefon älter klinge, wirke auch seriöser.
Es wird noch ein bisschen persönlicher. Sagnik komponiert und schreibt in seiner Freizeit, Gedichte. Er lebt bei seinen Eltern, hat im Augenblick keine Freundin. Dann singt er mir was vor. Und möchte wissen, ob ich einen Tee trinken will. Ja? Okay, er hat den Wasserkocher in meinem Büro angeschaltet.
Tatsächlich, da ist schon dieses Aufrauschen von Wasser zu hören, wenn es den Siedepunkt erreicht.
Teebeutel liegen bereit, ich gieße mir eine Tasse auf, warum nicht.
Rimini Protokoll haben die Gesprächssituation etwas geformt. Sie nehmen zum Beispiel Einfluss auf den Verlauf, indem der "Zuschauer" aus sechs Call-Center-Regeln eine auswählen darf (ich entscheide mich
für Nr. 4, sie lautet: "Nie entschuldigen"), indem auch mal ein Bild aus dem Drucker kommt (Sagnik zuhause, beim Dichten), man selbst sich eine Aufgabe aussuchen soll (ich wähle das Singen, das ist wohl
nur fair, nachdem er für mich gesungen hat). Gegen Ende dürfen wir uns dann auch sehen, per Webcam. Wir winken uns zu, wie die Kinder.
Da angeblich jeder Mensch um sechs Ecken oder so mit jedem anderen Menschen bekannt ist, kann man es bei ausreichender Entschlossenheit bestimmt auch selbst arrangieren, sich mal eine Stunde lang mit
einem Inder zu unterhalten. Aber es erfordert Mühe. Und es wäre wohl nicht so spielerisch, so nett, weil "Call Cutta" ein Freiraum ist, wie ihn nur das Etikett "Kunst" oder "Theater" schaffen kann.
Wir sind einen Pakt eingegangen, treten ja quasi in einer Inszenierung auf, sind aber trotzdem unter uns - oder jedenfalls fast: fürs Singen gibt es Applaus von Sagniks Kolleginnen und Kollegen. Wir werden uns
aber nie wieder sehen oder sprechen, dürfen also ungezügelt neugierig sein auf den anderen - und unsererseits alles verraten.
Gefühlt: ganz nah
Mit Karl-Marx-Forschern und Modelleisenbahn-Enthusiasten haben uns Rimini Protokoll schon bekannt gemacht, mit Nachrichtenleuten, Kraftfahrern, Sportschützen. Nun also mit einem Inder, der - gefühlt -
höchstens ein paar Kilometer weit weg ist. Erstaunlich viele Erfahrungen teilt man mit ihm. Aber vielleicht findet man das auch nur erstaunlich, weil man voll Vorurteilen steckt. Doch egal, wie viele man in der
knappen Stunde revidieren muss: So beteiligt ist man an "Call Cutta", dass man kaum anders kann, als hingerissen zu sein von diesem "interkontinentalen Telefonstück".
Und jetzt möchte ich an dieser Stelle noch Sagnik Chakraborty grüßen, in Kalkutta.