Von Dirk Pilz
17.09.2010 / Neue Züricher Zeitung NZZ
Auch dieses Theater ist der Auflärung verpflichtet. Es hat nur einen anderen Begriff von ihr. Seit sich Helgard Haug, Daniel Wetzel und Stefan Kaegi vor zehn Jahren zu dem Regiekollektiv Rimini Protokoll verbanden, veranstalten sie ein Theater, das den Zuschauern keinen Spiegel mit moralischen Absichten vorhält. Sie wollen nicht, wie einst Schiller, das Publikum zur Mündigkeit befreien, weil sie an kein Publikum glauben, das befreit werden müsste. Dass die Aufklärung vom unmündigen Menschen ausgegangen sei, sagte Kaegi einmal, sei ihr größter Fehler gewesen. Und weil das bürgerliche Theater auf diesem Verständnis von Aufklärung beruht, glaubt es, Heilanstalt sein zu müssen. Aufgeklärt, geheilt werden muss aber laut Rimini Protokoll vielmehr das Theater selbst, vor allem über sein Menschenbild. Die Leitfrage der Arbeiten dieses Kollektivs ist deshalb immer: Was ist der Gegenwartsmensch? Und wie geht Theater für diese Menschen? Philosophisch ist Rimini Protokoll der Anthropologie verpflichtet, methodisch den Ethnologen.
Stets nämlich graben die drei in den Biografien von Zeitgenossen und holen, wie sie sagen, „Experten des Alltags“ auf die Bühne. In „Wallenstein“ (2005 in Mannheim) schrieben Politiker, Soldaten, Richter ihre Lebenswelten in den Schiller-Text ein, in „Heuschrecken“ (2009 in Zürich) sah der Zuschauer Tausende Heuschrecken und hörte den Berichten von Klimaexperten, Astrophysikern und Insektenkundlern zu. Dokumentartheater hat man solche Bühnenarbeiten genannt. Von Postdramatik spricht die Wissenschaft.
Jetzt hat das Regie-Trio unter dem Titel „Drei Fliegen mit einer Klappe“ im Heidelberger Kunstverein seine erste Einzelausstellung eingerichtet, und diese betont eine gern übersehene Seite dieser irritierenden Protokollkunst: Jede Gegenwartsrecherche geht mit ihrer Erfindung einher. Jede Frage nach dem Menschen erschafft sein eigenes Bild von ihm – und das daraus entstehende Theater. In Heidelberg sind hunderte Theatersessel zu Reihen, Haufen und Schaukeln arrangiert – Sessel, die aus dem im Umbau befindlichen Heidelberger Stadttheater stammen. An der Wand gegenüber kleben Zettel, die Visionen eines „Theaters der Zukunft“ vorstellen, ausgedacht von Rimini Protokoll, aufgeschrieben von Heidelberger Bürgern. „Es wird perfekt inszenierte Banküberfälle geben, die mit einem Applaus vor dem Gefängnis enden.“ „Kaufabschlüsse werden in Warenhäusern öffentlich ausgerufen und beklatscht.“ In Videos auf der Galerie, im Fahrstuhl und in Hörspiel-Ecken sind parallel Rimini-Protokoll-Arbeiten dokumentiert, die einige dieser Visionen bereits Theaterwirklichkeit haben werden lassen. Rimini Protokoll hat in Heidelberg keine eitle Werkschau geschaffen, sondern eine lakonisch-hintersinnige Selbstreflektion inszeniert. Dieses Theater ist einer Aufklärung verpflichtet, die uns über das Leben unter medial überformten Bedingungen unterrichtet. Der Mensch erscheint hier als Schau-Steller seiner eigenen Biografie und das Theater als die Plattform, sich darüber Rechenschaft abzulegen.
Heidelberger Kunstverein bis 21. November
Neue Züricher Zeitung NZZ, 17. September 2010, Feuilleton