Von Hans-Dieter Schütt
08.01.2008 / Neues Deutschland
Ins Theater gehen, um sich die »Tagesschau« anzusehen? Nicht nur das, auch die Hauptnachrichten bei Al Djazeera, bei CNN, auf kurdisch-arabischen, südamerikanischen und indischen Sendern. Rimini Protokoll lädt im Berliner HAU (Hebbel am Ufer) zu »Breaking News« ein, einem »Tagesschauspiel«. Vor zahlreichen Monitoren agieren Redakteure und Übersetzer, firm im jeweiligen Land, das Ganze ist eine Art Live-Konferenzschaltung kreuz und quer durch die Welt-Nachrichten. Schüsse, viele sitzende Männer, Herr Köhler mit Sternsingern, Chaos in Kenia, Pulverrauch über Bagdad. Ein Chef vom Dienst der Agentur AFP – Andreas Osterhaus: zwischen listiger Gehemmtheit und selbstbewusster Präsenz – ist auch hier Chef vom Dienst, steuert die Simultan-Übersetzungen, die kommentierenden Einwürfe. Das gibt der Aufführung einen hohen Grad an Improvisation und Unberechenbarkeit, denn tatsächlich kann nur das weitergegeben, kommentiert, übersetzt werden, was am jeweiligen Vorstellungsabend über die Bildschirme läuft, und ein starker Faktor dieses Abends ist das unterschiedliche Naturell, die Einmischlust der einzelnen Mitwirkenden. Die freilich in die beruhigende Gewissheit eingebettet sind, dass die gestanzten Muster des TV-Geschehens, das sie vermitteln, nur bedingt außer Kraft gesetzt werden. Da sind die sympathisch zurückhaltenden Dolmetscher Martina Englert und Carsten Hinz; die ZDF-Cutterin Marion Mahnecke; der Medienkritiker Walter von Rossum, an diesem Abend, agil-trocken, der Spöttischste, der uns per Kopfstand das »Betriebsgeheimnis« der »Tagesschau« verrät, den leidenschaftlich strapazierten »Konformismus der Mitte«. Da ist die sanfte souveräne Inderin Sushila Sharma-Haque, die im Auswärtigen Amt Hindi unterrichtet; und da ist der witzige, charmante Djengizkhan Hasso, jesidischer Priester, kurdischer Politiker – die kleine Parodie auf einen Gesprächstermin bei US-Präsident Bush beendet er mit der Feststellung, eine derartig augenzwinkernd öffentliche Reminiszenz bedeute in Syrien: Gefängnis. Blitzartig scheint es, als könne man für Augenblicke durch die Bildschirme schauen und erblicke hinter den Filmszenen die Gesichter unterschiedlicher politischer Systeme ...
Mitunter darf der kleine Trupp der Kommentatoren und Übersetzer – jeder agiert auf ein Zeichen hin – simultan werden, der Chor gleitet, ohne Dirigat, ins wirre, gleichmütig unverständliche Stimmengerausche. Der Mono-Ton der Weltnachrichten. Und über dem Gerüst mit Bildschirmen thront Hans Hübner, jahrelang Afrika-Korrespondent der ARD, der einstige, unvollendet gebliebene Theaterkritiker liest aus den »Persern« des Aischylos, findet markante Sätze, das Stück beginnt nicht zufällig mit dem Warten auf Nachrichten, es werden keine guten Nachrichten sein.
Rimini Protokoll (Helgard Haug, Daniel Wetzel) verblüfft mit einer neuen Ausgabe jenes Wirklichkeits-Theaters, bei dem Menschen sich selber – nein, nicht spielen, sondern sich spielend dem Eigen-Sinn ihres Lebens, ihres Berufs, ihrer speziellen Erfahrung öffnen.
Irgendwann an diesem Abend kommt so etwas wie Bedrängung auf. Es ist die Gleichzeitigkeit verschiedener Wahrheiten, die zu schaffen macht. Ich sitze, da im Theater, unzweifelhaft in einem ganz klaren Ironiebezirk, der witzig, wirkungsvoll die tumbe, routinierte Selbstreferenz des Fernsehens offenbart; aber in gleichem Maße weiß ich mich doch als Teil dieser Wahrnehmungs-Simulation durch Television. Ich schaue zu und finde bekräftigt: In einem selbst verträgt sich, und das jeden Tag, niemand so gut wie der Kulturkritiker mit dem Unkulturkonsumenten. Das ist ein Friedensschluss, der verunsichert. Man möchte doch so furchtbar gern unanfechtbar sein. Ist es aber nicht. Man ist Fernsehzuschauer und meist nicht aus freiem Willen. Schwäche ist es, die immer siegt.
Vielleicht, weil Kritik am Fernsehen sowieso eine intellektuelle Anstrengung am völlig falschen Platz bedeutet. Seltsam: Die meisten Tätigkeiten, die Leute als geistige Alternative zum Fernsehen anführen, überzeugen mich nicht. Einschränkung: mich als Kulturkritiker schon, als von Schwäche Besiegten jedoch nicht. Fernsehen ist nämlich das Medium für Tageszeiten der Erschöpfung. Wenn die Widerstandskräfte sich am Alltag verschlissen haben, ist man auf diese Weise sogar fürs Ertragen der einen oder anderen Schlagersendung porös gemacht worden – was man sich in den Morgenstunden fiebernder Energien wohl kaum vorstellen könnte.
Wenn also die Erschöpfung kommt, schlägt die Stunde dieses flimmernden Lichts, das seinen Auftrag verfehlte, wollte es klug, künstlerisch, bildend oder in anderer Hinsicht lehrreich sein. Zu Recht schaltet der gesund empfindende Mensch, wenn er die Gefahr eines Anspruchs auf sich zukommen sieht, blitzartig um. Wer das Fernsehen geistig fordernd haben will, der macht inzwischen den Eindruck eines Menschen, der Bier nur dann trinkt, wenn dessen Brauerei – dies mindestens – nach Thomas Mann benannt ist.
Fernsehen ist Bier, einem anderen ist es Fusel, einem dritten eine andere Droge. Es nimmt uns die »Angst vor dem Tumult des Realen« (Rossum). Dass es mehr sei, Tiefes, Künstlerisches, Wertvolles etwa, das ist eine Illusion seiner Anfänge, die sich hartnäckig noch in sehr späten Programmausläufern hält und die überhaupt nur noch eine Chance hat, weil parallel zu den frühabendlichen Müdigkeiten der einen auch die Schlaflosigkeit der unbeirrt Geistvollen gestiegen ist. Fernsehen bedient sich der Literatur, des Films, der Information, der bildenden Kunst und der bildenden Wissenschaften, aber es ist nur ein Sampler im Dienst jener puren Oberflächlichkeit, die uns per Bild mit einer Blindheit schlägt, die wohlverdientem Schlaf als Bote vorausgeht. Wir schalten abends an und geben so Signal, dass wir abgeschaltet haben von diesem aufdringlichen, lauten, an uns nagenden Jedentag. Nach draußen strahlt dieses tausendfache Signal hinter den Fenstern als flirrende Bläulichkeit, die blaue Blume der Romantik in moderner Abart, und nicht mehr am Lagerfeuer sitzt man, sondern im Dauerfeuer der Bebilderung, und statt Blauer Stunde nun: Prime Time, gesetzt zwischen »Tagesschau« und »Tagesthemen«.
Nein, die »Tagesschau« selbst, jede Nachrichtensendung überhaupt, wurde längst ein Teil der programmatischen Abschweifung von wirklicher Welt. Rossum: »Eine Informationssendung im Fernsehen auszuwählen heißt, sich zu entscheiden: Was wollen wir heute mal nicht verstehen?«. Man hinterlässt kein trauriges Publikum, teilt uns der junge Isländer Birgisson mit, eine Lektion der alten Hasen in Rejkjavik. Die Welt ist doch trotz Krieg und anderem Tod erträglich, wenn man mit ihr keine Erfahrung mehr machen muss. Des Fernsehens Leistung ist das Imitat der Erfahrung. Ein einziger Rundblick in unser Leben, und erkennbar wird, welche große Bedeutung wir Imitaten beimessen. Von Becks SPD übers wellenrauschende »Tropic Island« bis hin zur ebenfalls tönenden Selbstverwirklichung.
Einmal hören wir an diesem Abend Westerwelle krähen: Er sei in die FDP eingetreten, weil man dort frei diskutieren könne. Worauf Rossum fragt, wer eigentlich bei der »Tagesschau« entscheide, dass so etwas (so etwas!) eine Information Nachricht sei. Es ist das Unverschämte einer Nachrichten-Gebung (klingt wie Schenkung), die fast neunzig Prozent ihrer so gepriesenen Aktualität eine Woche vorher schon »im Kasten« hat. Die Welt: absehbare Staatsreisen, Konferenztermine. Und gut gefüllt, um nicht durch plötzliche Tode ins Sende-Nichts zu fallen: der redaktionelle »Leichenspeicher«.
Fast eine Ewigkeit lang wird durch eine Unzahl arabischer Fernsehsender gezappt, Bild gewordenes Panorama unterschiedlichster politischer Lobbyisten; ein Sender zeigt live die tödliche Arbeit von Scharfschützen. Indische Sender dagegen erschöpfen sich in Cricket-»Nachrichten«; die Welt ist ein Sportplatz, wenn sie nicht ein Kriegsplatz ist, immer ist sie ein »Schrebergarten« (Rossum) des eilfertigen Fleißes, bei dem – so die Cutterin vom ZDF – mit schablonierten Totalen und Halbtotalen alles auf eine Beitragslänge von einsdreißig gehäckselt wird.
Plötzlich sind alle Monitore ausgefüllt vom Endloslauf der Schriftbänder, die viele Sender, gegen das eigene Bild, immer öfter ins Überreizungsrennen schicken. Zu den laufenden Nachrichten die Breaking News. Osterhaus liest AFP vor: Hand- und Fußamputationen in Iran – ein Gerichtsurteil. Geradezu rührend die Hauptnachrichten aus Island: Ein Jugendlicher »knackte« mit seiner Geldkarte fremde Konten.
Schlechte Nachrichten bei Aischylos. Westerwelle ist auch nicht besser. Fernsehen sendet Licht, das uns auf die Gesichter fällt. Nichts aber erhellt sich. So erhält es sich, das Fernsehen – und uns, in unserer Erschöpfung.
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