Von Peter Laudenbach
09.01.2020 / sueddeutsche.de
Sie haben Theater mit Heuschrecken, Robotern, indischen Callcentern, kubanischen Kommunistinnen und Totenrednern gemacht. Sie erklärten Stadtspaziergänge, Bundestagsdebatten, Gerichtsverhandlungen und eine Aktionärsversammlung zu Theaterinszenierungen und brachten den statistischen Durchschnitt einer Stadtbevölkerung auf die Bühne. Seit 20 Jahren stellt das Regiekollektiv Rimini Protokoll in vielen Variationen immer neu die Frage, was das eigentlich ist: gesellschaftliche Wirklichkeit.
Wie wird in ihr kommuniziert, wie laufen die unterschiedlichsten Milieus nebeneinander her, wie reagieren sie aufeinander? Was haben zum Beispiel Marx-Forscher, Arbeitsmigranten oder Manager von Rüstungskonzernen dem Rest der Gesellschaft zu sagen? Helgard Haug, Daniel Wetzel und Stefan Kaegi, die drei Rimini-Regisseure, haben eine neue Form des Dokumentartheaters erfunden und ganz nebenbei immer wieder vorgeführt, dass die Wirklichkeit selbst voll ist von Theaterformaten, Real-Theater sozusagen. Das Trio zählt zu den einflussreichsten Regisseuren eines postdramatischen Theaters, das viel von Brechts kühlem Blick gelernt hat und auf Einfühlungsangebote verzichtet. In den kommenden Monaten zeigen mehrere Berliner Theater, allen voran ihr Berliner Stammhaus, das Hebbel am Ufer (HAU), zum 20. Jubiläum eine große Werkschau. Der Besuch dürfte locker ein Semester Soziologiestudium ersetzen.
Schon bei ihrem allerersten Regieprojekt, noch als Studenten der Angewandten Theaterwissenschaft in Gießen und lange vor der Gründung ihres Rimini-Labels, entwickelten die drei Regisseure einige prägende Strategien ihrer späteren Produktionen. Zum Beispiel die Arbeit mit Laien, den "Experten des Alltags". Schließlich ist jeder ein Fachmann des eigenen Lebens. Während am Frankfurter Künstlerhaus Mousonturm die junge Performanceszene der 90er-Jahre sich selbst feierte, interessierten sich Wetzel, Haug und Kaegi für die Bewohner eines Seniorenstifts direkt neben dem Mousonturm. Mit ihnen wollten sie ihr erstes Stück machen: Die Jungen, Mitte 20, ganz am Anfang der Karriere, wollten wissen, wie das Leben im Alter aussieht. Ihr Zettel am schwarzen Brett des Seniorenstifts und die Gespräche, die sie mit den Bewohnern führten, war der Beginn ihrer bis heute fortgesetzten Recherchen in nahen und fernen Milieus.
Aber die fünf älteren Damen, die bei dem Abend mit dem schönen Titel "Kreuzworträtsel, Boxenstop" auf der Bühne des Mousonturms standen, hatten keine Lust, über das Alter oder den nahen Tod zu sprechen. Damit mussten sie sich sowieso jeden Tag beschäftigen. Also machten sie sich in der Inszenierung zu Formel-1-Pilotinnen. Natürlich steckte in ihren Bühnen-Geschichten trotzdem sehr viel von ihrem eigenen Leben. "Das ,Ich' gewissermaßen ,echter' Menschen gegenüber dem ,Ich', das eine Schauspielerin spielt, war eine Entdeckung für uns", sagt Daniel Wetzel. Das gilt noch immer, rund 100 Inszenierungen später, "zum einen formal, aber dann auch inhaltlich: Was die Leute zu erzählen haben. Da gibt's noch viel zu entdecken."
Wenn die Rimini-Regisseure mit "echten Menschen" arbeiten, wollen sie ihre Protagonisten nicht als Bestätigung schon vorab fertiger Thesen missbrauchen. Es würde die Erkundung sozialer Wirklichkeit und ihrer Spuren in den Biografien einzelner Menschen unnötig blockieren und verengen. Gerade die Irritationen, die entstehen, wenn fremde Sichtweisen, Weltbilder, Milieus, Biografien aufeinander stoßen, sind in den Rimini-Inszenierungen sehr ergiebig, theatralisch wie inhaltlich. "Dieses Nebeneinander der Erfahrungen und Wirklichkeiten muss man aushalten", sagt Rimini-Regisseurin Helgard Haug. Schon weil es zum Leben in modernen, also nach Niklas Luhmann funktional ausdifferenzierten Gesellschaften gehört. Wenn Theater nicht zur Selbstbestätigungsmaschine für die eigene Gesinnung, zur Bühnen-Meinungsblase verkleinert wird, ist es einer der Orte, an denen dieses "Nebeneinander der Wirklichkeiten" wie unter einem Vergrößerungsglas beobachtet, durchgespielt, reflektiert werden kann.
Das offenbar unstillbare Interesse an fremden Lebenswelten schützt die drei Regisseure zuverlässig vor dem Narzissmus vieler Performer, die hauptberuflich von sich selbst und den eigenen Selbstausdrucksbedürfnissen fasziniert sind. Helgard Haug, Stefan Kaegi und Daniel Wetzel lassen sich lieber von anderen faszinieren, von dem, was sie nicht kennen. Auch deshalb ist ihr Theater fast überall anschlussfähig. Sie haben inzwischen "auf allen Kontinenten außer der Antarktis" gearbeitet, sagt Helgard Haug, "zu viel in Städten, zu wenig auf dem Land!" Ihr Format "100 %", bei dem 100 Bewohner einer Stadt auf der Bühne in etwa die Bevölkerungsstatistik, also Parameter wie Alter, Geschlecht, Bildungsgrad, Religionszugehörigkeit, Einkommen abbilden, haben sie seit der Berliner Premiere in den letzten zwölf Jahren in dutzenden Städten adaptiert, von Melbourne, London, Braunschweig, Oslo, Kopenhagen, San Diego, Krakau, Tokyo, Paris, Philadelphia, Riga, Amsterdam, bis Sau Paulo, Montreal, Lissabon. Dieses Jahr folgen Hongkong, Brooklyn, Singapur. Immer mit lokalen Partnern, aktuellen Statistikdaten, monatelangen Vorarbeiten und hunderten Gesprächen im Vorfeld - eine Stadt begegnet sich selbst. Als sie 2010, mitten in der Wirtschaftskrise, "100 % Athen" zeigten und die Bürger auf der Bühne in kurzen Blöcken, immer sortiert nach Kategorien der Statistik, ihre Lebensgeschichten erzählten, Geschichten von sozialem Absturz, Angst, Überlebenswillen, Armut, Wut war das eine tiefenscharfe, gleichzeitig persönliche und sachliche Bestandsaufaufnahme eines Ausnahmezustands, der dabei war, zum Normalzustand zu werden.
Die Rimini-Regisseure erfinden Formate, die ihre Protagonisten gleichzeitig schützen und zum Sprechen bringen, sie zeigen, aber nicht bloßstellen. Was so entsteht, ist eine seltsame Kombination aus Intimität der geteilten Erfahrung und Distanz der Beobachtung. Diese Formate sind oft gleichzeitig naiv und raffiniert. Naiv, weil einfach Menschen aus ihrem Leben erzählen. Raffiniert, weil das aus vielen Perspektiven mit anderen Erfahrungen kontrastiert wird. Oft ist das mindestens doppelbödig, irritationsreich und im Aufeinanderprallen der vielen Perspektiven auch von einer latenten Komik. Ein Beispiel dafür ist eine frühe Arbeit, bei der die Regisseure ihr Publikum nach einem kleinen Workshop mit Aktien der Daimler Benz AG ausstatteten, um ihnen den gemeinsamen Besuch der Hauptversammlung im Berliner ICC zu ermöglichen. Geschult im Rimini-Theaterblick sahen die Besucher die Veranstaltung als ein theatralisches Readymade, ein Stück Realtheater aus dem Genre des kapitalistischen Realismus, bei dem das Bühnenbild raumschiffgroß, die Hauptdarsteller etwas monoton und das Publikum gleichzeitig der Chor der Statisten waren. Sehr lustig.
Ein anderes Beispiel für die Kunst des Perspektivwechsels war "Breaking News" am Berliner HAU. Die Regisseure wollten die migrantischen und deutschen Bewohner eines Berliner Hochhauses kennen lernen. Und sie wollten wissen, welche Fernsehsender sie mit all den Antennen auf ihren Balkonen empfingen, von Al Jazeira über türkische Schnulzen bis zu brasilianischen Telenovelas und RTL2. Indem einige Bewohner des Hauses von sich und ihren Lieblingssendungen erzählten, entstand ein konkretes Bild selbstverständlicher Pluralität. Aufgeregte Identitätsdebatten wirken daneben weltfremd.
Zum Jubiläum haben Rimini Protokoll "100 % Berlin" aktualisiert. Man sieht, wie die Stadt sich in den zwölf Jahren seit der Uraufführung verändert hat. 38 der 100 Protagonisten von damals sind wieder dabei. Dazu kommt ein unsichtbarer Mitspieler: die Zeit. Der 100. Mitspieler war bei der Uraufführung ein Säugling. Heute ist er ein selbstbewusster Teenager.