Der Mythos lebt

Prometheus-Arbeiten von Rimini Protokoll und Sahika Tekand

Von Jürgen Otten

21.07.2010 / Frankfurter Rundschau,

Konstantina Kouneva? Vermutlich wird es außerhalb Athensnicht viele Menschen geben, die sich an diese Frau erinnern, und an das Verbrechen, das an ihr begangen wurde. Die stets nach Neuem ausgreifende Zeit schüttet solche Erinnerungen zu. Jetzt aber, an diesem Abend im Herdoeion, wird alles wieder freigelegt: die grausige Tat, die Ursachen dieser Tat, die Folgen. Und wenn es auch nicht Konstantina Kouneva selbst ist, die auf der Bühne erscheint, um all das noch einmal zu schildern, was ihr widerfuhr, sondern eine Freundin, deren Gesicht von einer Maske verborgen wird, die in zwei Hälften zerfällt (eine glatt polierte und eine aufgeraute), so wird rasch klar, warum gerade diese Geschichte erzählt wird. Das Projekt „Prometheus in Athen“ von Rimini Protokoll, das im Rahmen des Hellenic Festivals realisiert wurde, anschließend zum Kulturhauptstadt-2010-Festival Istanbul wanderte und nun auf der Zeche Zollverein in Essen als so genannte Performance Lecture zu erleben ist, stellt ganz unverhohlen die Frage nach dem Sinn des Prometheus-Mythos. Was wissen die Athener davon? Was bedeutet er für sie? Gibt es überhaupt eine Verklammerung zwischen antikem Mythos und heutiger Realität? Und wenn ja, welche?Konstantina Kouneva ist eine prometheische Figur, die Licht ins Dunkel bringtIm Fall von Konstantina Kouneva, die aus Bulgarien nach Griechenland immigrierte und als Hausmeisterin arbeitete, liegt die Antwort auf der Hand: Sie ist erkennbar eine prometheische Figur und hat als Basisgewerkschaftlerin Widerstand geleistet. Hat ungeschriebenes ausbeuterisches Gesetz angezweifelt, fiese Lücken darin angeprangert. Dafür ist sie bestraft worden – jedoch nicht von den Göttern, sondern von Menschen, die sogar ihren Tod einkalkulierten. Die Tragik und zugleich das Heroische liegt darin, dass diese unbeugsame Frau wusste, wie sehr sie in Gefahr war. Wochen bevor sie im Dezember 2008 einemSäureattentatzumOpferfiel, das ihr halbes Gesicht zerfraß, erhielt sie Drohungen. Kein Zweifel, sie hat die möglichen Konsequenzen ihres Handelns gespürt. Aber das hat die bekennende Buddhistin nicht angefochten. Konstantina Kounevawollte einen kleinen Teil dieser Welt besser machen. Gerechter. Sie wollte Licht ins Dunkel bringen.Wie Prometheus. Daniel Wetzel und Helgard Haug von Rimini Protokoll, die sie für das Projekt „Prometheus in Athen“ gewinnen konnten, hat sie irgendwann erzählt, dass ihr Fels die Schmerzen seien, die ein normales Dasein verhindern.Wetzel, Haug und ihr Team haben nach solchem Pathos, nach solch heroischem Widerstandsgeist nicht explizit gesucht. Vielmehr ging es ihnen um konkrete, permanente Leiderfahrung. Es galt, Menschen zu finden, die sich im Zustand kompromissloser Auflehnung befinden; Menschen, die prometheisches Potenzial in sich spüren; Menschen, die Gesetze gebrochen haben zum Wohle anderer; und auch solche, die das Göttliche über die (irdische) Exekutive stellen. Logistisch-dramaturgisch entsprach das Vorgehen dem Projekt „100 Prozent Berlin“, dem Versuch, einen Querschnitt durch die Stadt darzustellen. Mit dem feinen Unterschied, dass es in Athen 103 Menschen sind, dieihre Stadt repräsentieren, jeder von ihnen stellvertretend für 32000 Bürger; drei von ihnen sind illegal Eingewanderte, die für die Zeit der Proben und die Aufführung eine besondere Aufenthaltserlaubnis erhalten haben. Der Ort derAufführung scheint wie geschaffen für dieses Ansinnen. Unweit des Herodeions am Fuße der Akropolis liegt das Theater des Dionysos, die Wiege der Demokratie; dort hat Perikles ehedem jenen zivilisatorischen historischen Prozess eingeläutet, der zurecht als Vorbild einer gleichberechtigt verfassten Gesellschaft verstanden wurde. Allein, das ist lange her, die Demokratie versucht seither vergeblich, ihrem ursprünglichen Wesen zu entsprechen. Wie die moderne griechische Geschichte leidvoll bezeugt, nicht immer glücklich... Doch nicht das Allgemeingültig-Politische steht bei „Prometheus in Athen“ im Mittelpunkt, sondern 103 Kurzgeschichten von 103 Athenern. Der jüngste ist ein zweijähriges Mädchen, der älteste eine elegante Dame von 92, die aus ihrem Alltag heraus und auf das Bühnen-Halbrund treten und berichten, woher sie kommen, wo sie leben, welche Verbindungslinien sie zum Prometheus-Mythos ziehen können und welche der Figuren aus Aischylos’ Tragödie ihnen am nächsten steht. Wie häufig bei Arbeiten von Rimini Protokoll gelingt das Sonderbare: Nach und nach schält sich die Topographie einer Stadt aus diesen Geschichten heraus, ergibt sich ein Mosaik, welches im Prozess seiner Zusammensetzung zum schlüssigen Ganzen wird.Denn es bleibt nicht bei der Vorstellung des und der Einzelnen. Die Aufführung mutiert zum Fragespiel. Quer über die Bühne ist ein Strich gezogen, er trennt den Ja- vom Nein-Bereich. Und nun prasseln die Fragen auf die Darsteller hinab. Fragen nach göttlicher Existenz, Fragen nach dem Sinn von Gerechtigkeit, Fragen nach der moralischen Konstitution des Einzelnen wie des Staates, Fragen wie: Würden Sie, um ihre Familie zu retten, einen Mord begehen? Bei dieser letzten Frage gehen mehr als fünf Personen auf das Ja-Feld. Noch mehr würden Widerstandwagen. Dieser rote Faden ist immer spürbar, diese Suche nach einer Ästhetik des Widerstands.Denn es bleibt nicht bei der Vorstellung des und der Einzelnen. Die Aufführung mutiert zum Fragespiel. Quer über die Bühne ist ein Strich gezogen, er trennt den Ja- vom Nein-Bereich. Und nun prasseln die Fragen auf die Darsteller hinab. Fragen nach göttlicher Existenz, Fragen nach dem Sinn von Gerechtigkeit, Fragen nach der moralischen Konstitution des Einzelnen wie des Staates, Fragen wie: Würden Sie, um ihre Familie zu retten, einen Mord begehen?Bei dieser letzten Frage gehen mehr als fünf Personen auf das Ja-Feld. Noch mehr würden Widerstandwagen. Dieser rote Faden ist immer spürbar, diese Suche nach einer Ästhetik des Widerstands. Um diese als Kern sichtbar zu machen und dem Abend eine narrativ-dramatische Struktur zu geben,haben Daniel Wetzel und Helgard Haug zehn der 103 Athener herausgehoben. Ihre Geschichten tragen besonders markante Züge, in ihnen erkennt sich der Mythos wieder. Zum Beispiel Lazaros Petromelidis, der wegen Wehrdienstverweigerung inhaftiert war. Oder der Astronom Thanasis Katsiyannis, für den die wahre Tat des Prometheus darin besteht, dass er nicht nur das Licht, sondern die Wissenschaft zu den Menschen gebracht habe. Das Wichtigste aber sei, dass Prometheus uns die verschiedenen Sprachen gebracht habe, die es dem homo sapiens erlaubten, die Natur zu beherrschen.In der Jetzt-Zeit findet dieser Anti-Prometheus keinen Halt mehrWas aber, wenn die Natur eines Menschen das gar nicht zulässt? Wenn das Mythisch-Erhabene der Prometheus-Figur vollends abhanden gekommen ist? Dieser Frage geht Sahika Tekand in ihremspannenden Prometheus-Projekt „Vergessen in zehn Schritten“ nach, das im Istanbuler Theater Harbye Muhsin Ertugrul Sahnesi zu sehen war und das die türkische Regisseurin einen Anti-Prometheus nennt. Sechs schwarz gewandete Schauspieler (drei agieren in türkischer, drei in deutscher Sprache) irren auf der Suche nach dem Sinn des Da-Seins über ein mit Scheinwerfern bestücktes, schachbrettartiges, 32 Quadratmeter großes Spielfeld. Leicht fällt ihnen das nicht, ihre Sprache ist verstümmelt. Molto staccato und irrsinnig schnell poltern Satzbrocken aus ihren Mündern. Fallen wie abgehackt zu Boden. Erst nach und nach wachsen die Gedankensplitter zu einem Denkmodell zusammen, erhalten die Sätze Sinnhaftigkeit. Und wird klar, dass dieser Anti-Prometheus, der in vielen Momenten seine Ähnlichkeit mit Sisyphos bekundet (nur dass man sich ihn nicht als glücklichen Menschen vorstellen muss), in der rasend beschleunigten Jetzt-Zeit keinen Haltepunkt findet, keine Möglichkeit, seine eigene Identität noch wahrzunehmen. Dass jeder Widerstand gut wäre.Wenn man nur wüsste, gegen was und wen. Konstantina Kouneva könnte ihnen stundenlang ein Lied davon singen. Wiewohl ein tief-, tief trauriges.


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Prometheus in Athen