Von Tobi Müller
26.06.2007 / Frankfurter Rundschau
Die Schauspielerin Therese Giehse (1898-1975) braucht keinen Vornamen, aber einen bestimmten Artikel. Die Giehse. Kammerspiele München unter Otto Falckenberg bis zu Hitlers Machtergreifung, Kabarett mit Thomas Manns Kindern in Zürich, Schauspielhaus, dort und danach immer wieder: Brecht, auch noch zur Eröffnung von Peter Steins Schaubühne in Berlin 1970. Legendär, bitte in Großbuchstaben.
In der Uraufführung von Friedrich Dürrenmatts "Der Besuch der Alten Dame" war sie Claire Zachanassian, die Magnatin, die von der Gemeinde Güllen den Mord an ihrer verräterischen Jugendliebe Alfred Ill (Gustav Knuth) erbat - für den Betrag einer Milliarde. Das war 1956. In der Erinnerung vieler Zürcher Zuschauer gehören die Schauspieler dieser Zeit zum "Emigranten-Ensemble". Das war schön. Während des Krieges hieß das Schauspielhaus in manchen Kreisen eher "Juden- und Kommunistentheater". Jetzt, in Zürich, auf der gleichen Bühne: Die Giehse - Jüdin, Sozialistin - als Pappfigur. Ein Geist aus Karton, manchmal eine Stimme.
Helgard Haug, Daniel Wetzel und Stefan Kaegi sind das Regiekollektiv Rimini Protokoll, die Außenseiter des Theaterbetriebs, die vom Betrieb umarmt werden für ihre Kunst, die Konvention zu sprengen. Denn die Riminis arbeiten stets mit Bühnenlaien, die bei ihnen "Experten" heißen. Experten ihrer Biografie. Das qualifiziert sie für die nüchtern unterhaltsamen Abende, die ihre Themen nie mit Textlektüren durchdringen, dafür immer mit Mensch-Material. Jetzt: "Uraufführung: Der Besuch der Alten Dame". Damit steht nicht das Stück im Zentrum, sondern die Erinnerung an den Abend des 29. Januar 1956.
Rimini Protokoll greift auf Zeugen der Uraufführung zurück. Auf Zuschauer, den Kinderchor, einen Bühnenarbeiter, die Direktionssekretärin, eine TV-Ansagerin und auf den Regie-Assistenten des regieführenden Direktors Oskar Wälterlin. Sie erzählen, wie es war. Sie korrigieren sich. Es gibt nur das Regiebuch von Richard Merz, keine Filmaufzeichnung. "Sich zu erinnern, das geschieht immer jetzt", sagt Merz. Die Vergangenheit ist gestorben, man kann sie deshalb auch nicht "bewältigen". Richard Merz ist heute Psychotherapeut, man möchte ihm glauben. Recht hat er, das beweist dieser Abend, keineswegs.
Denn nicht nur die Erinnerungen der Experten sind hartnäckig am Leben, auch Dürrenmatts Stück ist es. Noch nie haben die Riminis so viel Originaltext stehen lassen, sie folgen selbst der Szenenstruktur der "Alten Dame". Die "Rekonstruktion" von den Rändern her ist nicht nur eine der in der ersten Stunde lustigen, lokalen Erinnerungen, sondern auch eine der Inszenierung selbst. Die Pappfiguren mit den Schauspielern von damals fahren per Fernsteuerung über die Bühne, die Experten schlüpfen in die Rollen
Die Nähe zur ursprünglichen Dramaturgie führt zu einem Analogiezwang zwischen Bühnenexperten und Stückfiguren. Geht es bei Dürrenmatt um ein Jagdgewehr, erzählt einer Jagderlebnisse, geht es ums Anschreiben in Ills Krämerladen, hören wir von ersten Investitionen. Geht es ums Reisen, dann geht es ums Reisen.
Immer wieder toll wird es, wenn die Anekdoten der Experten auf den eigentlichen Rimini-Ansatz verweisen, und weniger auf den Text. Hans Graf, 1956 im Kinderchor, erzählt, wie er 1969 auf einem Festival war, und erst Jahre später merkte, dass das ja Woodstock war. Auf der hervorragenden, dem Programmheft beigelegten DVD mit Filmen, Fotos, Kritiken und Reden sieht man auch Zeugen, die nicht mehr wissen, ob sie damals die Dame oder nicht doch das andere Stück gesehen haben. Äh, "Die Physiker"?
Als hätten die Riminis Respekt vor der Nostalgie, spielt nach der Pause eine Kinderschar weiter. Die Güllener Gemeinde beschließt vor der Weltpresse doch noch die Ermordung Ills. Aus Kindermund sind Reportergesten gespenstisch - auch, weil man mit geschlossenen Augen kaum einen Unterschied zum realen Lokalfernsehen feststellt. Und der kleine Yannick Weber als verbrämt humanistischer Lehrer, schon bei Dürrenmatt eine Glanzfigur, spielt alle dermaßen an die Wand, dass man gut versteht, warum sich dieses Kind gegen die Bezeichnung "Statist" im Vertrag gewehrt haben soll.
Die Kinder sind viel zu lange auf der Bühne und der Abend wird allzu stofflich. Dass Erinnerung nicht zu haben ist, wurde klar. Dass sie dann über die Erzählung des Textes mit Wucht zurückkehrt, ist die Folge dieser frühen Überplausibilität. Doch zum Glück lassen die Riminis das kühle Konzept auch aus dem Ruder laufen. Und sie flunkern mit Theatermitteln wie noch nie, vielleicht weil sie bei diesem Thema auch mal dürfen. Als hätten sie das alte Theater, mit großen Augen, zum ersten Mal entdeckt.