Von Franco Cordelli
18.10.2011 / Corriere della Sera
Seit Jahren reisen Rimini Protokoll umher, als Gäste bei verschiedenen Festivals. Nach dem Faust-Preis 2007 und dem Europa-Preis 2008, ist jetzt mit dem Silbernen Löwen der Biennale in Venedig auch die Anerkennung in Italien da. Stefan Kaegi, Helgard Haug und Daniel Wetzel haben ihrer Gruppe einen seltsamen Namen gegeben; warum Rimini Protokoll? Ich hatte mir immer vorgestellt, daß alle drei oder wenigstens einer von ihnen als Kind die Ferien in Rimini verbrachte, wie viele ihrer Landsleute. Aber das war nur eine dumme Träumerei. Nachdem ich im Programm von Le vie dei Festival im Teatro India nun "Black Tie" gesehen habe, scheint mir diese Träumerei noch dümmer. In den jungen Leuten (ich weiß nicht wie jung) von Rimini Protokoll gibt es keine Spur von Adria und Sandstrand. Stattdessen gibt es viel Berlin, viel Deutschland, viele ernste, ja sehr ernste Dinge. Wie vor ein paar Tagen in "Can we talk about this?" von Lloyd Newson, geht es auch in "Black Tie" um Integration - hier allerdings ohne allzuviele ideologisch-moralische Nuancen. Das nunmehr universelle Problem wird mit Hilfe einer zwar, wenn man so will, beispielhaften, aber doch persönlichen Geschichte dargestellt. Es ist die Geschichte der Adoption eines südkoreanischen Mädchens durch deutsche Eltern. Das Mädchen, nun erwachsen, erzählt von sich: wie sie sich fremd gefühlt hat in Deutschland, und wiederum fremd in Seoul, als sie sich entscheidet, dorthin zu fahren, zurück zu gehen an ihre entfernten Ursprünge, als sie eine in Zeitungen vom 6. Juli 1977 gewickelte Kreatur war. Aber jenseits der Geschichte dieses Mädchens, die Miriam Yung Min Stein mit Hilfe von Bildern erzählt, ist das Interessante hier wie sich auf ganz aussergewöhnliche Weise eine bestimmte Art von Theater manifestiert, das, was wir Teatro di Narrazione (Erzähltheater) nennen und was auf der literarischen Ebene einer als Literatur getarnten Anklageliteratur entspricht. Man ist davon immer fasziniert, besonders, wenn man das, was man hört oder liest, nicht weiß. Man kann das Talent der jeweiligen Erzähler bewundern. Aber man darf auf keinen Fall vortäuschen oder gar annehmen, diese Art von Theater oder Literatur wäre tatsächlich Theater oder Literatur. Sie ist es nicht. Sie ist Alibi, Fluchtweg, oder eben Moment des Auffahrens des schlafend / unruhigen westlichen Bewusstseins. "Black Tie" oder "Can etc." kann man nur so betrachten: als Zeugnisse eines Erwachens, als Zeugnisse von etwas vielleicht kommenden.