Das Theater des Alltags

Das Theater, das sich in Alltagsmomenten verbirgt und bloß freigelegt werden muss, ist das Thema der Regisseure am letzten Premierenwochenende

Von Isabella Hager

15.06.2008 / Der Standard

Wien – Journalisten haben Macht. Sie bestimmen nicht nur, worüber berichtet wird, sondern quasi überhaupt, was passieren wird. Die "Tagesschau" im deutschen Fernsehen etwa "steht" bereits eine Woche, bevor sie gesendet wird.
Selbstmordattentäter, Erdbeben können noch Änderungen am Programm bewirken, erzählt ein deutscher Medienkritiker. Um ihn herum flimmern zig Fernsehbildschirme, gemeinsam mit Dolmetschern und Kollegen aus der Branche berichtet er wie in einem Schnupperkurs an einer Fachhochschule über das Wesen der TV-Nachrichten.
Dem theatralischen Wert des Alltagslebens gingen die Wiener Festwochen dieses Wochenende mit den letzten beiden Premieren in diesem Jahr im Museumsquartier nach. Am Samstag inszenierte die deutsche Gruppe Rimini Protokoll mit Breaking News die weltweit von Journalisten in unterschiedlicher Wertung gelenkte Informationsflut. Bereits am Freitag hatte die griechische Produktion Ich sterbe als Land Premiere: der sprachgewaltige Blick des Autors Dimitris Dimitriadis auf die Trümmer eines von menschlicher Grausamkeit zerstörten Landes, der allerdings entzaubert und längst seiner drängenden Verzweiflung beraubt bei den Festwochen ankam.
Nach dem Sturz der Militärdiktatur 1978 veröffentlicht, ist Dimitriadis’ summend anschwellender Text die kollektive Anklage einer Nation durch sein geprügeltes Volk. Michael Marmarinos inszeniert das Pamphlet mit 200 Statisten, die in einer Schlange vom hintersten Bühneneck bis in den Hof des Museumsquartiers aufgestellt sind, und vertraut dabei zu sehr auf die Wirkung der Masse.
Marmarinos, dessen Interesse einem Theater gilt, das in den alltäglichen Dingen steckt und nur gesehen, herausgelöst, nicht aber geformt werden muss, gibt dem Volk ein Mikrofon als Sprachrohr, lässt dann aber doch nur den „Chor“ sich mühsam an der Textflut abarbeiten, ohne das darin beklagte Schicksal sichtbar zu machen. Leid, Krieg, all das Blut, das in annähernd dreitausendjähriger Geschichte fließen musste – es bleibt einigen Komparsinnen überlassen, sich zaghaft als Hekubinnen zu versuchen. Ein „Hausmeister“ kehrt indes Abfallschnipsel bedeutungsschwer über den nassgespritzten Bühnenboden. Mehr ist in der Bearbeitung von diesem 30_Jahre alten Text nicht übriggeblieben. Im (Alltags-)Leben findet er keine Antworten.
Die "Perser" im Newsflash
Welche Priorität die Meldung der Niederlage der persischen Flotte vor Salamis vor 2500 Jahren gehabt hätte, kann eine Nachrichtenagentur sich heute wohl schwer vorstellen. Aischylos Perser, das älteste überlieferte Drama überhaupt, rufen Helgard Haugs und Daniel Wetzels Rimini Protokoll als ersten "Nachrichtentext", nämlich den Bericht eines realen Krieges, in Erinnerung.
Ein deutscher Theaterkritiker, einer von neun Experten, die sich zwei Stunden lang am Programm zu den Breaking News verausgaben, berichtet zwischen Meldungen vom irischen Referendum (ORF) und Wochenendausflügen syrischer Staatsmänner (RTV) aus der Zeit vor Christus. Denn seine Kollegen analysieren derweil live und in Echtzeit für das Publikum die via Satellit empfangenen TV-Sender aus aller Welt: Der russische Präsident Medwedew hat bei einer Prozession teilgenommen, das indische Fernsehen berichtet über den Mord an einem Mädchen, in ganz Südamerika wird Che Guevara gedacht – ein Journalist der französischen Nachrichtenagentur AFP dirigiert die Zuschaltung als Controller aus dem Newsroom.
Rimini Protokoll – den Namen gab sich die Gruppe übrigens seines Klanges wegen – wollen mit ihren Arbeiten Realität ausstellen. Und so sachlich hier im Grunde Wissenswertes als Information mitgeteilt wird, so sehr hier Abläufe ("Schnitt") und Formen in den Vordergrund gestellt werden, so sehr beruft sich dieses Unterfangen doch auf eine alte, fast romantische Tradition des Erzählens. Sie erinnert damit daran, wer es sich herausnehmen darf, sich vor einem Publikum aufzustellen und eine Bühne zu formen: nicht die Frau im gepunkteten Kleid, die Marmarinos Belangloses über den "perfekten Mann" faseln lässt, sondern zunächst schlicht derjenige, der etwas Neues, eine Geschichte zu erzählen weiß. Und das muss keine "Eilt!"-Meldung sein.


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