Von Wjatscheslaw Schadronow
23.09.2010 / Tschastnyj korrespondent
Das fünfte „Territorija“-Festival, in dessen Mittelpunkt die moderne deutsche Kultur steht, demonstriert eine weitere Version des Untergangs von Europa, eine Apokalypse light.
Die Aufführung von „Karl Marx. Kapital. Band Eins“ wurde zum herausragendsten und ungewöhnlichsten Ereignis des Festivals „Territorija“.
Die Darsteller sind allesamt Laien. Sie befinden sich in einem Bühnenbild, das aus Bücherregalen besteht, die mit dicken Bänden vollgestellt sind. Sie spielen fast ausnahmslos sich selbst und kommunizieren untereinander und mit dem Publikum als die Personen, die sie sind.
Im Verlauf von zwei Stunden ohne Pause blättern sie in den Seiten der Vergangenheit, in der Geschichte der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und der eigenen Biografie, wobei sie diese mit der marxistischen Interpretation des Kapitalismus konfrontieren.
Der authentische Marx-Text ist in diesem Stück in vereinzelten Zitaten vorhanden. Man kann nicht sagen, dass das „Kapital“ nur ein ungefähres Geplauder wäre oder eine Fantasie zu einem ausgewählten Thema, denn das Werk von Karl Marx steht auf die eine oder andere Weise stets im Mittelpunkt des Interesses.
Sinnfällig gemacht wird es jedoch in den Brechungen der realen Schicksale konkreter Menschen. Insgesamt sind es acht Personen, und sie vertreten gemäß den Gesetzen der Dramaturgie (auch wenn „Rimini Protokoll“ dokumentarisches Theater ist, bleibt es doch zuallererst Theater und ist erst dann dokumentarisch) verschiedene Länder, Völker, Kulturen, Altersgruppen, Geschlechter, sozialer Schichten usw.: Arbeiter und Professor, junger Mann und Greis, Lette und Belgier sowie eine Frau in allerdings politisch unkorrekter Einzelausführung.
Für den einen ist Marx Beruf und eine Sache fürs ganze Leben, für den anderen eine leidenschaftliche Beschäftigung, für den nächsten eine Pflicht, und für wieder jemand anderen ist es nur ein leeres Wort – doch die wirtschaftlichen Verhältnisse, die Marx beschrieben und analysiert hat, betreffen auf die eine oder andere Weise letztlich alle.
Von besonderer Bedeutung in diesem stilisierten Seminar für politische Ökonomie war für mich die Beteiligung des lettischen Historikers, Filmregisseurs und Politikers der ersten Jahre der neuerworbenen Unabhängigkeit Lettlands Talivaldis Margevics.
Seine Mutter war nach dem Krieg aus Dummheit nach Lettland zurückgekehrt, getäuscht von der russischen Propaganda. Und nun erzählt er, wie er als kleiner Junge, von den Russen ohne Essen und Trinken in einen Viehwaggon gesperrt, unterwegs schwer erkrankte.
An einem kleinen Bahnhof machte eine polnische Frau der jungen Lettin, die auf dem Weg ins Unbekannte war, den Vorschlag, ihr den Jungen im Tausch gegen Lebensmittel zu überlassen. Die Mutter lehnte ab, woraufhin die Frau ihr immer mehr ihrer essbaren Waren anbot und ihr schließlich alle Lebensmittel einfach so überließ. Im Kontext des Gesprächs darüber, dass die gesellschaftlichen Verhältnisse von den gesellschaftlichen Interessen bestimmt werden und dass alles eine Ware darstellt und einen Tauschwert besitzt, ist diese Alltagsepisode nicht nur eine anrührende Geschichte über eine Mutter (die dann viel später bekennt, im Zweifel gewesen zu sein, ob es nicht für das Kind besser gewesen wäre, es wegzugeben), sondern auch ein anschauliches Beispiel dafür, dass die Lehre von Marx nicht allmächtig ist. Und glücklicherweise auch nicht vollkommen zutreffend.
Das heißt, der Marxismus im „Kapital“ wird nicht im allervorteilhaftesten Licht dargestellt. Dennoch ist das „Kapital“ keine unverhohlene Satire auf den Marxismus.
Man könnte meinen, der Grund dafür liegt darin, dass bis auf wenige Ausnahmen die Beteiligten und Urheber dieser Inszenierung den Marxismus eher theoretisch kennen, den Kapitalismus in seinen sehr konkreten Erscheinungsformen hingegen in Ermangelung an Vergleichsmöglichkeiten aus tiefster Seele verachten.
Einer von ihnen, ein Finanzintrigant, oder einfacher ausgedrückt: ein Gauner und Betrüger (für den der Autor seines biografischen Buches Ulf Mailänder spricht, obwohl der Protagonist nach sechsjähriger Haftstrafe aus dem Gefängnis freigelassen sein sollte), nennt sich in diesem Zusammenhang „Dissident der Kapitalbewegung“.
Nicht also die marxistische Theorie allein, sondern auch der Ruf „Raubt das Geraubte!“, mit der diese Theorie in die Wirklichkeit gedrungen ist, hat nicht an Aktualität verloren.
Die Darsteller erlauben sich eine Ironisierung von Marx, zeigen die Begrenztheit und das Mechanische seiner Schlüsse auf, erinnern an die nicht allzu erfreulichen Folgen des Eindringens der marxistischen Theorie in die politische Praxis, unterziehen aber weder Marx noch sein „Kapital“ einer wie auch immer gearteten Verurteilung. Einerseits wirkt sich das günstig auf das künstlerische Niveau der Inszenierung aus, die bei all ihrem „Dokumentarismus“ nicht zu einem Vortrag der Agitprop-Brigade vor einer politischen Wandzeitung abrutscht. Andererseits erlaubt sie nicht, das ganze Ausmaß des Übels zu erfassen, das der Marxismus neben anderen menschenfeindlichen, infernalischen Ideologien in sich trägt.
Indem er an einem Alltagsbeispiel den Begriff des Tauschwerts illustriert, erinnert sich der lettische Historiker daran, dass man auf dem Markt in Riga für einen Band der sowjetischen Ausgabe des „Kapitals“ 1000 Euro bekam, und für „Mein Kampf“ von Adolf Hitler 20 Euro – womit ein Band „Kapital“ 50 Bände „Mein Kampf“ wert waren.
Ein überaus symbolischer Gegenwert. Übrigens wurde auch dem Publikum im Saal zur besseren Anschaulichkeit Geld in die Hand gegeben: Scheine zu 5 Euro und Bücher – Bände der gesammelten Werken von Marx und Engels in deutscher Sprache.
Aber die Bücher wurden einem beim Hinausgehen wieder abgenommen, und das Geld war natürlich gefälscht – denn bis jetzt hat noch niemand die kapitalistischen Verhältnisse abgeschafft.
Wjatscheslaw Schadronow
Tschastnyj korrespondent, 23.9.2010
Übersetzung: Franziska Zwerg.