Von Jorgen Staun
28.12.2001 / Frankfurter Allgemeine Zeitung
An der hellgrünen Wand in der U2-Station Alexanderplatz hängt ein winziger Automat. Nicht besonders auffällig, einem Kondom- oder Süßigkeitenautomaten ähnlich. Fast keiner bemerkt ihn. Die Leute haben es eilig, laufen hin und her, steigen ein und aus, jeder in seine eigene Welt, jeder von seinem eigenen spezifischen Duft umgeben, der sich mit dem Geruch anderer Passanten und dem der anhaltenden Züge mischt. Ein unterirdischer Wind weht, bringt neue Gerüche mit sich. Ein bisschen nach Moder, ein bisschen nach Benzin.
Diesen Geruch hat die Künstlerin Helgard Haug auffangen wollen. Jedenfalls beauftragte sie einen Parfümeur damit, am U-Bahnhof Alexanderplatz eine Geruchsanalyse der U-Bahnhof Alexanderplatz eine Geruchsanalyse der U-Bahnlinie 2 durchzuführen. Er sollte daraus eine Essenz der Geruchswelt dieses Ortes gewinnen. In der Welt der Gerüche ist Helgard Haug eigentlich noch eine Anfängerin. Wenn sie nicht gerade als Theaterregisseurin arbeitet, bevorzugt sie andere künstlerische Mittel, etwa Aufzeichnungen, Kartographien und Fotografien. Ihr Thema ist Mobilität. Aber warum dann Gerüche?
Weil Orte unverwechselbare Gerüche haben, man denke nur an den spezifischen Geruch einer Londoner U-Bahnstation.
Ist man diesem Geruch einmal begegnet, erkennt man ihn sofort wieder, sobald man an diesen Ort zurückkommt. Denn Gerüche wecken Erinnerungen. Sie sind sofort da, entschwinden aber auch sofort wieder, erzählt die in Berlin lebende Künstlerin. „Das Kuriose daran ist, dass ein Raum wie die Station der U2 am Alexanderplatz einen speziellen, konstanten Duft hat, obwohl sehr viele, sehr verschiedene Menschen durch ihn strömen. Der Duft stammt vom Raum, nicht von den Menschen. Die U5 riecht zum Beispiel völlig anders als die U2, wahrscheinlich weil sie tiefer unter der Erde liegt.“ Aber es sei schwer, über Düfte zu rden, meint die Künstlerin, es fehle einfach das Vokabular. Um so mehr beeindruckte sie der Parfümeur, mit dem sie zusammenarbeitete. Er konnte sogar allein durch seine feine Nase feststellen, welche Reinigungsmittel in der U-Bahnstation benutzt worden waren.
Den Geruch am Alexanderplatz beschreibt sie als einen „sehr technischen Duft“, merkwürdig süßlich und eher unangenehm. Als Parfümeur würde man ihn wohl nicht tragen wollen, allerdings, so Frau Haug, hätte es in den zwanziger Jahren Männer gegeben, die sich Motoröl hinter die Ohrläppchen tupften, um der Dame ihres Herzens sogleich als Autobesitzer imponieren zu können.
Wer also nach dem Währungstausch noch ein bisschen Kleingeld in der Tasche hat und – wem auch immer – mit einer Erinnerung an den Alexanderplatz imponieren möchte, sollte den Zauber-Automaten aufsuchen, ein Zweimarkstück in den Schlitz stecken und sich etwas wünschen. Vielleicht: I want to be big“ oder „I want to be rich“. Bewahrt man dann den kleinen Flakon mit dem Namen „U-deur“ gut auf und öffnet ihn irgendwo, am Strand von Sylt, in einem Wiener Café oder in den ländlichen Fluren des nördlichen Jütland, kann man gewiss damit der Geliebten näher ans Herz rücken – oder auch nur das Heimweh nach dem großstädtischen Leben am Alexanderplatz für kurze Zeit überwinden.