Von Ulrike Linzer
07.04.2009 / der Freitag (online)
Das Leben auf die Bühne stellen
Im Gespräch erzählt Stefan Kaegi vom Theater-Kollektiv "Rimini Protokoll", wie er nach "Experten des Alltags" sucht und warum er zur Daimler-Aktionärsversammlung geht
Der Freitag: Für Ihr Stück "Radio Muezzin" haben Sie einen blinden Koranlehrer, einen ehemaligen Panzerfahrer, einen Elektriker sowie einen Bodybuilder und Vizeweltmeister im Koranzitieren zusammen auf die Bühne gestellt. Warum?
Stefan Kaegi: Ich hatte davon gelesen, dass in Kairo die Rufe der 30.000 Muezzine zentralisiert werden sollen und sie in Zukunft über Lautsprecher gesendet werden. Meine Protagonisten sind alle Gebets-Ausrufer in Kairo und erzählen in dem Stück aus ihrem Leben. Spannend finde ich die Verwandlung von Menschen, wenn sie in einem neuen Kontext ihr Leben erzählen. Wenn also ein Muezzin sein tägliches Leben, in dem Fall die Moschee in Kairo, verlässt und dann nach Berlin oder demnächst nach Athen, Zürich, Avignon, Helsinki und andere Städte reist, um als Botschafter seines Alltags aufzutreten.
Sie nennen Ihre Protagonisten "Experten des Alltags" und machen aus ihren Biografien Bühnenstücke. Wie finden Sie Ihre Experten?
Am Anfang unserer Arbeit steht kein Text, sondern akribische Recherche, ein Interesse für einen Ort, ein System, ein Ritual. Oft entstehen Ideen eben genau durch alltägliche Beobachtungen, auf dem Weg durch die Stadt, auf Reisen, beim Zeitungslesen, Fernsehschauen und im Gespräch mit Menschen. Wenn uns ein Thema interessiert, zu dem wir Experten suchen, durchforsten wir Telefonbücher, schalten Kleinanzeigen und gehen natürlich an die Orte, in bestimmte Milieus. Die Texte für die Stücke entstehen erst viel später bei den Proben, gemeinsam mit unseren „Experten des Alltags“.
Die Experten steuern ihr Wissen bei. Und Sie bauen einen dramaturgischen Text daraus?
Wir verstehen uns als eine Art Gastgeber, der die eingeladenen Menschen mit ihren Biografien und die Gäste zusammen bringt. Die Darsteller treten hier als Stellvertreter ihres sozialen Kontextes auf: zum Beispiel aus der Welt der Modelleisenbahner, der Trauerindustrie, der bulgarischen Fernfahrer oder ägyptische Muezzine. Wir arbeiten mit dem Prinzip des Readymades. Wir versuchen, das mit unserer Arbeit einzurahmen, damit man das besser versteht und ein sichtbarer Subtext entsteht durch die ganzen Konnotationen, die da mitwabern.
Interessiert Sie eigentlich auch klassisches Theater, ein bekanntes Drama zu inszenieren?
Die Welt ist doch schon voll Theater, warum sich Neues ausdenken, bevor ich verstanden habe, was da gespielt wird?
Vor Ihrer Theaterzeit waren Sie Journalist.
Ja, ich habe für den Lokalteil in meinem kleinen Schweizer Heimatort Solothurn geschrieben. Über die neue Schaufensterdekoration im Warenhaus der Stadt, Vereins-Hauptversammlungen. Ich war dadurch ständig auf einer Reise durch die eigene Stadt und habe Einblick in die verschiedensten Welten bekommen. Am meisten Spaß hat es mir immer gemacht Porträts zu schreiben, und eigentlich mache ich das heute noch. Auch wenn die Menschen auf der Bühne stehen und ihre Porträts selbst darstellen. Anstatt zwei Stunden Interviewzeit für einen Artikel haben wir aber Zeit, über mehrere Monate mit den Menschen zusammenzuarbeiten. Wir besuchen sie zu Hause, begleiten sie im Alltag und schreiben das dann zusammen mit ihnen auf. Ich sehe mich inzwischen eher als so was wie ein Ghostwriter oder Redenschreiber.
Aber Sie schreiben keine Vorträge für Politiker oder andere Prominente, sondern für Leute, die Sie für interessant erklären.
Das ist die Chance, die wir mit unserem Theater haben, an Menschen ganz nah ran zu zoomen und ihnen eine Stimme zu geben. Die Zeitungen und Fernsehsender sind voll von Menschen, die etwas zu sagen hätten, stattdessen wird über sie gesprochen. Ich finde, das Theater erzeugt mehr Nachhaltigkeit und Unausweichlichkeit. Die Zuschauer sitzen oder stehen den Protagonisten direkt gegenüber. Sie sind keine Zahl oder Schlagzeile, sondern jemand, dem man über einige Stunden ausgeliefert ist. Es hat auch etwas mit der Machtsituation zwischen mir und den Menschen zu tun, über die ich in der Zeitung lese oder im Fernsehen sehe. Da kann ich umblättern oder wegzappen, das geht im Theater nicht so leicht. Da kann man höchstens die Vorstellung verlassen.
Bei Projekten wie „Cargo Sofia“ geht noch nicht mal das. Da sitzt man in einem zum Zuschauerraum umgebauten LKW, der auf einer Seite ein Fenster hat. Zwei bulgarische Lastwagenfahrer sind seit 2006 mit diesem LKW durch ein gutes Dutzend europäischer Städte getourt und erzählen anhand von einzelnen Stationen von ihrem Leben. Wie haben Sie die Lastwagenfahrer gefunden?
Auf Fahrradtouren in den Osten habe ich oft LKWs irgendwo stehen sehen, an Grenzen, Raststätten, auf Parkplätzen in Industriegebieten. Ich fand spannend, dass da ein ganzes Leben in den Führerkabinen enthalten ist. Die Fahrer verbringen oft Wochen im Lastwagen, haben Konservenladungen an Essen gestapelt, manche haben sie sogar mit Teppich ausgelegt und ziehen immer die Schuhe aus, bevor sie einsteigen. Das konnte ich in kein Theater bringen. Die Zuschauer müssen mitfahren, um etwas über diese Welt zu erfahren. Da braucht man keine Bühnenbilder mehr zu bauen, ich bringe die Zuschauer da hin, wo die Bühnenbilder von Leben gebaut wurden.
In mehreren Stücken von Ihnen treffen die Zuschauer auf diejenigen, die unser Essen, Kleidung und andere Waren durch ganz Europa oder die ganze Welt transportieren oder deren Dienstleistungen wir in Anspruch nehmen, wie auch bei „Call Cutta“, wo man eine Stunde mit einer Inderin oder einem Inder telefoniert. Wieso sind Ihnen diese Globalisierungsthemen wichtig?
So viele Dinge, die wir selbstverständlich konsumieren und Dienstleistungen, die wir in Anspruch nehmen, kommen von weit her und wir wissen nichts über die, die sie herstellen oder zu uns bringen. Deshalb suchen wir nach den Geschichten und den Menschen, die dahinter stehen. Menschen, die für uns meistens unsichtbar bleiben, die man nicht sehen soll oder will. Wie eben die bulgarischen Lastwagenfahrer, die unser Gemüse an den Hintereingängen der Shoppincenter abliefern oder die indischen Callcenter-Mitarbeiter, die unsere IT-Probleme lösen.
Und was wollen Sie damit kritisieren?
Mit unserer Arbeit wollen wir die Möglichkeiten des Theaters weiterentwickeln, die uns ungewöhnliche Sichtweisen auf unsere Wirklichkeit ermöglichen. Uns interessiert weniger die Kritik an den Zuständen als vielmehr die Zustände selbst. Wir sehen uns eher als Forscher denn als Politiker und begreifen Theater als Tool, um die Welt zu verstehen. Wir wollen gesellschaftliche Zustände sichtbar machen, kritisieren kann sie dann jeder selbst.
Bei Ihrem nächsten Projekt gibt es keine Bühne, keine Darsteller, und die Regie führt diesmal auch nicht "Rimini Protokoll", sondern die Abteilung "Investors Relations" des Daimler-Konzerns. Ihr Team hat Aktien gekauft und Aktionäre gesucht, die ihre Einladung zur Jahreshauptversammlung abtreten, um möglichst vielen Theaterzuschauern Zugang zu dieser Aufführung zu gewähren. Warum?
Das ist eine Riesen-Show. Vor 8.000 Aktionären wird eine riesige, blaue Leinwand aufgebaut. Davor, leicht erhöht sitzt der eine Teil des Ensemble: sechs Vorstandsmitglieder und zwanzig Aufsichtsräte. Hinter der Leinwand arbeiten Dutzende von Bühnenarbeitern als Back-Office-Souffleure, um für jede Frage an die Darsteller eine Antwort einflüstern zu können. Der andere Ensembleteil besteht aus den Teilhabern des Konzerns: stolzen Aktionären, Dividende-hungrigen Aktionären, räuberischen Aktionären, touristischen Aktionären, kritischen Aktionären. Und da spielt noch die Presse mit und auch die Mitarbeiter des Aktionärsservice. Das Stück beginnt morgens um 9 Uhr und endet erst am späten Abend mit der Entlastung des Vorstandes.
Sie haben ja bei Ihren Vorrecherchen schon an Hauptversammlungen teilgenommen. Was fasziniert Sie so daran?
Das Aufeinanderprallen von Topmanagern und den vielen Kleinanlegern, die das Forum nutzen, um auf etwas aufmerksam zu machen, sei es, dass die linke Türklinke bei der S-Klasse etwas scheppert oder, dass in Argentinien Gewerkschaftler verschleppt wurden. Bei der Hauptversammlung darf jeder Aktionär reden. Bei einer Hauptversammlung, auf der wir waren, wurden Leute weggetragen vom Rednerpult, weil sie ausfällig gegen den Vorstandsvorsitzenden wurden.
Und was spielt "Rimini Protokoll" da für eine Rolle? Wie wollen Sie da intervenieren?
Wir haben dort nichts geplant. Auch bei anderen Stücken improvisieren wir viel und lassen unseren Darstellern viel Freiheit. Aber diesmal ist es noch etwas anders, da wir überhaupt keinen Einfluss auf das haben, was da gespielt wird. Wir verbringen hoffentlich einen interessanten Tag bei dieser Aufführung, einer der aufwändigsten Inszenierungen der Spielzeit. Wir haben ein Programmheft mit Besetzungszettel und dramaturgischen Einführungen zu Daimler vorbereitet, in dem steht, was wer wo macht. Außerdem kann man mit dem Handy über bestimmte Telefonnummern bestimmte Opernsequenzen abrufen, um die Aufführung live nachzuvertonen. Und man kann in Nischengesprächen mit Experten eingespielte Rollenprofile hinterfragen. Im letzten Jahr hat übrigens der Aufsichtsratsvorsitzende seine Aktionäre mit „Wir schaffen Wert“ eingeschworen, dann gingen die Kurse in den Keller. Mal schauen, was diesmal kommt.
der Freitag Artikel-URL: http://www.freitag.de/alltag/0915-rimini-protokoll-theater-daimler
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