Von Lena Liedtke
17.04.2007 / Wiesbadener Kurier
Können Lebensgeschichten einen Gebrauchswert, Tauschwert oder gar Mehrwert haben? Und was passiert bei ihrer Akkumulation? Lassen sie sich einfach durcheinander stapeln wie Krimskrams nach einem eiligen Umzug in einem riesigen Bücherregal? Dass ein durchaus poetisches Feuerwerk entstehen kann, wenn Lebenssplitter aufeinander treffen, beweisen die Theatermacher Helgard Haug und Daniel Wetzel mit ihrem Konzept namens "Rimini-Protokoll".
Ausgewählte "Experten" an Stelle von gelernten Schauspielern bevölkern die Bühne. Sie berichten in einer so spannend, witzig und pointiert zusammengefügten Collage aus Taten und Texten von ihren geplatzten Träumen und zärtlich gehegten Idealen, dass aus den Schnipseln tatsächlich unterhaltsames Theater mit Dokumentar-Charakter entsteht. Dreh- und Angelpunkt der ambitionierten Inszenierung am Frankfurter Schauspiel, was war´s noch gleich? Ach ja: "Karl Marx, Das Kapital, Erster Band". Über den Erkenntnisgewinn jedoch entscheidet allein der Betrachter.
Als illustre Zeitreisende mit leiser Melancholie und clowneskem Charme präsentieren sich die Protagonisten: Kapitalvernichter und Geldvermehrer, Spieler, Träumer, junge und alte Revolutionäre im Dienste der Befreiung jedweden Proletariats.
So klettert Jochen Noth zügig aus besagtem Bücherregal, das flächendeckend die Bühne beherrscht. Der Unternehmensberater und einstige Studentenrevolutionär, der so weise wie Konfuzius lächeln kann, hat schon mehrfach Kapital vernichtet und auch öffentlich einige Scheinchen verbrannt. Russisch-Übersetzerin Franziska Zwerg hat zwar "Das Kapital" nicht gelesen, aber weiß, wie peinlich Boris Jelzin ist und zerschnippelt leidenschaftslos die Sätze von Marx. Christian Spremberg, der verhinderte Quizshow-Millionär, liest mit schöner Stimme aus der "Kritik der politischen Ökonomie" in Blindenschrift und legt mit flotten Sprüchen dazu passende Schallplatten auf. Wie Max Greger wippt dazu Talivaldis Margevics, der Filmemacher, der Russisch spricht und als Baby beinahe selbst einmal zur Ware ward.
Schier zerbersten würde das Mosaik aus Geschichten, gäbe es nicht Thomas Kuczinsky, den weißbärtigen Wirtschaftsgeschichtler und Rechenkünstler, der die Quellen, so scheint´s, wie kein anderer kennt und der mühsam zwar doch zusammenhält, was anekdotenreich auseinanderzudriften droht.