Von Isabell Hemmel
23.10.2015 / Tagesanzeiger Zürich
Rimini Protokoll beschäftigen sich mit Hitlers Hetzschrift. Warum und was der Abend mit der Schweiz zu tun hat, erklärt Co-Regisseurin Helgard Haug.
«Mit auf der Bühne ist seit Projektbeginn ein Exemplar, das aus einer Schweizer Familie stammt. ‹Mein Kampf› (MK) wurde natürlich auch in der Schweiz rezipiert. Der Anlass für das Theaterprojekt war folgender: Im Januar wird MK gemeinfrei, das Urheberrecht, das seit 1945 beim Freistaat Bayern lag, läuft aus. Was dann? Wird uns das Buch zukünftig an jeder Ecke begegnen? Und was steht denn da wirklich drin? Eine Wissenslücke zu entdecken, ist immer ein guter Grund und Start für ein Projekt. Wir von Rimini Protokoll haben festgestellt, uns fehlt das Wissen über einen Text, der allein in Deutschland 12,5 Millionen Mal gedruckt wurde und sich über den gesamten Globus verbreitet hat. Der immer noch da ist, ob in Antiquariaten, auf Dachböden oder in den zweiten Reihen der Bücherregale. Der im Internet und in vielen Ländern dieser Erde einfach zu haben ist.
Drei Jahre haben wir recherchiert und Menschen aufgesucht, die aus verschiedenen Gründen Erfahrungen mit MK haben. Es geht uns nicht darum, dem Text eine Bühne zu geben, sondern einen kritischen Umgang damit zu ermöglichen. Hätte mich vor der Lektüre jemand zu MK gefragt, hätte auch ich nur sagen können, es ist volksverhetzend, ein Scheissding, und ich lehne es ab. Ich finde das zu wenig. Es war uns wichtig, einen Abend mit sechs Experten zu erarbeiten, die mehr dazu zu sagen haben. Theater hat auch die Aufgabe da hinzuschauen, wo der Ekel den Blick normalerweise ablenkt. Ich finde, es bringt nichts, Verbote oder Tabus aufzustellen. Damit wird nur verhindert, dass eine gewisse Argumentationsweise und ein Sprachgebrauch durchschaubar werden.
Wichtig für uns waren zum Beispiel die Stellen, in denen demokratische Vorgänge lächerlich gemacht und abgelehnt werden, bei dieser antiparlamentarischen Hetze ist der Text leider extrem heutig. Das sind Parolen, die man bei jeder Pegida-Veranstaltung hört. Das Schüren von Ängsten in Zusammenhang mit einer sogenannten Überfremdung hat eine grosse Aktualität – gerade heute und gerade in der Schweiz.
Als Schweizer den Abend einfach abzulehnen, wäre zu einfach. Es gibt ja eine lange Diskussion über die Rolle der Schweiz während der Zeit des Nationalsozialismus. Aber klar, hier stehen vor dem Abend andere Vorzeichen als in Deutschland oder in Österreich, und das werden wir in das Stück einbauen. Aber auch hier dürfte vor allem die grundsätzliche Frage des Abends interessant sein: Hält man Sachen verdeckt, oder guckt man ganz bewusst hin. Ich finde es wichtig, diesen alten Text zu entmystifizieren und ihm so seine Macht zu nehmen.»