Von Stefan Keagi
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Mit Kairo telefonieren
Wenn diese Zeilen erscheinen, sind sie hoffentlich schon veraltet. Wenn alles gut geht, ist Mubarak dann abgetreten und meine ägyptischen Freunde sind wieder im Proberaum oder bereiten sich vor auf das nächste Gastspiel von "Radio Muezzin" vor. Wenn alles falsch läuft, sitzen sie im Gefängnis oder sind tot, wie einige ihrer Freunde, und "Radio Muezzin" ist wieder verboten.
Zurzeit stehen meine Freunde täglich auf dem Tahir Square, der jeden Abend in der Tagesschau gezeigt wird. "Der Platz", wie sie ihn jetzt nur noch nennen, liegt keine 100 Meter weg vom Goethe Institut. Dort haben wir zusammen im Herbst 2008 mit vier Muezzinen und einem Radioingenieur Theater geprobt: Muezzine davon überzeugt, auf der Bühne nicht nur vom Koran, sondern auch von sich selber zu sprechen; zu erwähnen, dass die Stadt nicht unter Minaretten sondern einem Verkehrschaos leidet; oder durchblicken zu lassen, dass sie nicht mit allen Entscheidungen der zentralisierenden Staatsmacht einverstanden sind.
Wenn ich den Tahir Square jetzt auf CNN sehe, ist er nicht wieder zu erkennen. Damals konnte ich ihn kaum überqueren, weil die Autos in einer seltsamen Form von Kontaktimprovisation Türe an Türe drüber fuhren. Jetzt ist er kaum zu überqueren, weil eine Million Menschen darauf Schulter an Schulter stehen.
Heute ist es dort noch lauter als damals. Als ich meinen Regieassistenten Dia Hamed mitten in der Demo anrufe, sind nur Sprachfetzen zu verstehen: "I cannot read mails... I sleep at the home of my friends..." Dann geht seine Stimme wieder im Rhythmus der Sprachchöre unter. Selbst wenn die Muezzine am Platz jetzt noch ausrufen würden, wären sie nicht mehr zu hören. Aber die Moschee neben dem Platz ist ohnehin zu einem Krankenhaus umfunktioniert.
Tage zuvor habe ich auf Facebook eine kurze Antwort von Radioingenieur Sayed bekommen: In unserem Stück erklärt er die bevorstehende Zentralisierung der Muezzinstimmen durch Radiowellen als Machtgeste der Regierung. Jetzt schreibt er in seinem unvergleichlichen Englisch: "thanks mr. stefan i hoppe the egypt be good" - als ich nachfragen will, zeigt Facebook schon wieder Fehlermeldungen an.
Am Tag darauf skypet er der Produktionsleiterin, dass ihm die Polizei beim ersten "Marsch der Millionen" in den Fuß geschossen hat. Und er zeigt ihr eine Pistole, mit der er sich jetzt vor den Beamten des Innenministeriums schützen will, die in seinem Viertel plündern, um den Ruf nach der Polizei lauter werden zu lassen. – Ausgerechnet Sayed mit einer Pistole! Sayed, den wir in Berlin vorübergehend ins Krankenhaus brachten und auf der Bühne ersetzten, als er eine Stunde vor der Vorstellung einen Herzinfarkt hatte, weil sich die Muezzine zankten.
Die Demonstrationen sind friedlich, sagt meine Dramaturgin Laila Soliman, die ich gerade noch in Brüssel erreiche, bevor sie ins wahrscheinlich menschenleere Flugzeug nach Kairo steigt. Ihre Wohnung, in der wir damals Texte schrieben, liegt direkt unter den Dächern, von denen jetzt geschossen wird. Aber das kann sie jetzt nicht zurückhalten.
Ich soll auch kommen, sagt Mahmoud Refat, unser Musiker, der im Theater pingelig auf jedes Störgeräusch achtet. Jetzt steht er mitten im Lärm. Einer von seinen Freunden wurde erschossen, ein anderer überfahren, er selbst verprügelt. "Und trotzdem ist das die beste Zeit, die ich in dieser Stadt erlebt habe", sagt er: "You have to come!"
An jeder Ecke werde jetzt über die Gesellschaft diskutiert, ruft er ins Telefon. – In Kairo, wo mir vor gut zwei Jahren, Moscheen freundlich die Tür öffneten, aber sobald ich statt den Imam den Muezzin in den Proberaum einlud, die meisten ein offizielles Schreiben vom Ministerium verlangten, das diese autorisiere, mit mir zu sprechen. Damals standen sie an jeder Ecke, die Geheimdienstleute, die manchmal Freunde von Freunden verschwinden ließen. Die Stasi Ägyptens. Überhaupt fühlte sich vieles an, wie bei einem DDR Besuch. Und auch unser Stück könnte bald wie ein Stück aus einer überwundenen DDR aussehen, denke ich beim checken des Live-tickers. In unserem Stück werden gesellschaftliche Verhältnisse zwischen den Zeilen angedeutet, aber keine Kritik laut ausgesprochen. Es ging darin um Menschen zwischen Religion und Staat, aber nie um Polemik. Die wäre ohnehin nicht durch die Zensur gekommen.
Als im Sommer 2009 kurz vor den Aufführungen in Avignon den Muezzinen die Ausreise verweigert werden sollte, hatte sogar der damalige Außenminister Steinmeier auf eine Bitte von Matthias Lilienthal einen Brief ans aegyptische Aussenministerium geschrieben, um das Verbot unserer Gastspiele wieder aufzuheben. Alle möglichen Diplomaten gaben damals ihr bestes um klarzumachen, unser Stück bilde kein falsches Ägypten ab, nur weil auch mal Müll oder alte Motorrikhschas auf den Videos zu sehen seien, oder weil die Muezzine auf der Bühne erzählen, wie schlecht sie verdienen.
Irgendwie funktionierte damals, was natürlich jeder vergleichbaren ägyptischen Produktion mit Zensurproblemen verweigert blieb: Wir konnten weiter touren. Allerdings nicht ohne einen Aufpasser des Ministeriums, der uns manchmal nächtelang den Kopf zermarterte und drohte, solange auf den Videos unsaubere Strassen zu sehen seien, könne er für die Sicherheit unserer Darsteller bei ihrer Heimkehr nach Ägypten nicht garantieren.
Letzte Woche wurde nun der Minister für religiöse Angelegenheiten abgesetzt. Ob die Gastspiele in Dänemark, Singapur und Stockholm diesen Frühling stattfinden dürfen, muss also wieder neu verhandelt werden. Jeder neue Minister will sich gegenüber seinem Vorgänger profilieren. Aber ist dieses Stück über die Zentralisierung von Macht anhand der Zentralisierung des Muezzinrufs in seiner Subtilität überhaupt noch spielbar?
Auf der Strasse ist jetzt alles möglich. Ad-Hoc-Theatergruppen spielen Sketche, in denen sie sich über "die Kuh die lacht" (Mubarak) lustig machen, während die Fernsehstars sich auf die Seite Mubaraks schlagen aus Angst ihre Privilegien zu verlieren. Schriftsteller, Theaterleute und Blogger sind auf der Strasse um sich ihr eigenes Bild zu machen, während das Staatsfernsehen immer noch Gehirnwäsche betreibt: Die Demonstranten seien aus dem Iran bezahlt und im Westen trainiert...
Mahmoud will auf dem Tahir Square keine elektronische Musik auflegen, wie er das sonst fast jede Woche in irgendeinem Club tut. Er findet nicht gut, wenn seine Künstlerfreunde jetzt auf der Strasse Kunstausstellungen und Performances aus den Demonstrationen machen wollen. Das hier ist kein Theater. Das ist viel besser, sagt er. Alles ist möglich. So etwas hat er noch nie erlebt. It's a mixture of fear and joy. There's so much excitement everywhere. It's a very good time. You have to come!
Und die Muezzine? Sheikh Mansour, der früher Panzer fuhr, was er so auf der Bühne nicht sagen durfte, wohnt in einem hart umkämpften Viertel. Er macht sich Sorgen, begehrt aber lieber nicht auf. Auch der 70jährige Abd-El-Muoti, der auf unserer Bühne mit 220 Volt eine Essiggurke verglühen lässt, bleibt bei politischer Spannung lieber zuhause. Nur der blinde Muezzin Gouda unterstützt die Demonstranten – telefonisch, denn ohne Augenlicht hört er lieber daheim Fernsehen.
Nein, das sind nicht die Proteste von Strenggläubigen, sagt Ghada, die bei uns die Übertitel fährt. "Ihr in Europa braucht keine Angst vor den Muslimbrüdern im Parlament zu haben". Ich weiß worauf sie abzielt und entschuldige mich schnell (als sei ich dazu autorisiert) für die Haltung Europas, sage ihr, wie ich mich schäme, dass die offizielle deutsche Außenpolitik immer noch zu glauben scheint, dass Ägypter nicht demokratiefähig seien, und Muslimbrüder mit Taliban verwechselt.
Ich erzähle Mahmoud, dass ich vor der ägyptischen Botschaft in Berlin Solidarität demonstriert habe, auf dass Deutschland endlich den Rücktritt Mubaraks fordere, statt sich mit lächerlichen Reformen zufrieden zu geben (nach denen schon wieder ein Menschenrechtsanwalt und Freund unserer Übersetzerin Samah eingesperrt wurde). Aber Mahmoud unterbricht mich: Don’t worry. Dieses eine mal müsst ihr Westler überhaupt nichts tun. Das ist ja das Unfassbare hier: Wir können endlich selber über unsere Zukunft bestimmen. You should see it.
Und die Gastspiele? Mahmoud fragt: Was sollen wir da spielen? "Radio Muezzin" wird nie mehr dasselbe sein. Das ist jetzt egal, sage ich. Macht ihr erstmal eure Freiheit klar. Dafür schicke ich gerne meine Zuschauer nach Hause. Oder noch besser: Ihr erzählt dann einfach, wie Ägypten wirklich ist. Das dürft ihr ja dann vielleicht. Einfach die Dinge benennen wie sie sind - ohne jeden Satz mit einem Ministerium auszuhandeln. Wenn ihr ein neues Ägypten macht, dann mache ich fürs nächste Gastspiel gerne ein neues Stück.
Stefan Kaegi ist eines von drei Gründungsmitgliedern von Rimini Protokoll und Regisseur von "Radio Muezzin", einer Produktion, die am Goethe Institut Kairo entwickelt, im Frühling 2009 im HAU Berlin uraufgeführt und seither in 25 Städten in 14 Ländern gezeigt wurde.